Un­si­che­re Da­ten­la­ge hemmt er­folg­rei­ches Ri­si­ko­ma­nage­ment

News

Die Datenlage zu Covid-19 ist von erheblichen Unsicherheiten gekennzeichnet. Dies führt nicht nur zu Fehleinschätzungen bei der interessierten Öffentlichkeit, wenn Medien regelmässig – aber völlig unzutreffend – von «Infizierten» und «Corona-Toten» sprechen. Auch die Effektivität und die Effizienz getroffener Risikomanagementmassnahmen lassen sich aufgrund der verfügbaren Datenbasis nur rudimentär erfassen. Ein Gastkommentar von Professor Hato Schmeiser*.

Die massiven Effekte von Covid-19 auf die Gesundheit der Bevölkerung sind nicht leicht voraussehbar gewesen. Die Risikomanagementmassnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus, die vor fünf Wochen vom Bund eingeleitet worden sind und sich in ähnlicher Form auch in den angrenzenden Ländern finden, sind ausgesprochen umfassend – mit erheblicher Wirkung zum Beispiel auf die Tätigkeit von Unternehmen, aber auch auf die Freiheitsrechte der Bevölkerung. Vornehmliches Ziel ist es, die volle Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems durch die Reduzierung der Ausbreitungsgeschwindigkeit aufrechtzuerhalten. Zudem erhofft man sich, durch einen Zeitgewinn Behandlungsmethoden und Präventions-massnahmen verbessern zu können.

Datenlage durch Unsicherheit gekennzeichnet

Problematisch erscheint uns, dass die Datenlage durch grosse Unsicherheiten gekennzeichnet ist. Dies führt nicht nur zu Fehleinschätzungen bei der interessierten Öffentlichkeit, wenn Medien regelmässig – aber völlig unzutreffend – von «Infizierten» und «Corona-Toten» sprechen1.  Auch die Effektivität und Effizienz getroffener Risikomanagementmassnahmen lässt sich aufgrund der verfügbaren Datenbasis nur rudimentär erfassen.

Die öffentlich publizierten Informationen zur Anzahl Infizierter bilden in aller Regel nur die positiv getesteten Fälle ab. Die Zahl der tatsächlich Infizierten und der zeitlichen Entwicklung ist damit kaum abschätzbar, da unter anderem eine klassische Stichprobenverzerrung vorliegt. Getestet werden vor allem Personen, die erkrankt sind und Symptome vom Covid-19 zeigen, sowie (teilweise) Risikogruppen und Menschen, die im medizinischen Sektor arbeiten. Es liegt also keine zufällig gezogene Stichprobe vor; zudem ändern sich regelmässig die Zulassungskriterien der Tests sowie deren Sicherheitsgrad. Des Weiteren gilt zu bemerken, dass auch die Anzahl der durchgeführten Tests im Zeitablauf nicht konstant ist. Gleiches gilt für die regionale Verteilung der Tests.

Professor Hato Schmeiser, geschäftsführender Direktor der Instituts für Versicherungswirtschaft an der Universität St. Gallen

Professor Hato Schmeiser, geschäftsführender Direktor der Instituts für Versicherungswirtschaft an der Universität St. Gallen

Regemässige Zufallsstichproben als Chance

Die Gefährlichkeit der Krankheit für Infizierte, die tatsächliche Ausbreitung der Krankheit in der Gesellschaft und die Wirksamkeit von Massnahmen lässt sich somit nur äussert grob bestimmen. Anzumahnen ist, warum nicht mehr Energie darauf verwendet wurde, auf Basis regelmässiger Zufallsstichproben die tatsächliche Entwicklung der Krankheit zu erfassen. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass zum Beispiel die Länder Europas gegenüber China einen zeitlichen Vorlauf besassen – und damit mehr Möglichkeiten hatten, sich auf die Situation einzustellen.

Als Schätzungen, wieviel Personen in der Bevölkerung tatsächlich infiziert sind, wer-den häufig (schwer verifizierbare) Spannbreiten genannt, die vielfach zwischen der zehn- bis über der zwanzigfachen Zahl der bestätigten Infizierten liegen. Diese Spannbreite ist möglich, da ein grosser Teil Infizierter symptomfrei bleibt.

Wenn man zur Verdeutlichung einmal annehmen möchte, dass sich von der in der Schweiz bestätigten Zahl der Infizierten (25'768 am 14. April 2020, 7.00 Uhr) auf knapp 500'000 (250'000) tatsächlich mit dem Virus befallene Personen schliessen lässt und die 500'000 infizierten Personen (250'000) die durchschnittliche Mortalitätsrate der Schweizer Bevölkerung aufweisen2, versterben aus dieser Gruppe im Erwartungswert schon mehr als zehn Personen (5) pro Tag – nicht wegen des Coronavirus, sondern mit.

Keine konstante Kausalität

Dieser Aspekt deutet bereits auf die zweite Problematik hin. Der kausale Zusammenhang zwischen Covid-19 und Todesfall lässt sich nicht immer leicht herstellen und ist zudem – insbesondere bei häufig vorliegenden Vorerkrankungen – fliessend. So gilt gemäss Professor Lothar Wieler, dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, «jemand als Corona-Todesfall, bei dem eine Corona-Infektion nachgewiesen wurde». In gleicher Richtung hat sich auch das Bundesamt für Gesundheit BAG auf Anfrage geäussert.

Es ist gut nachvollziehbar, dass in der gegebenen Situation der Versuch einer Trennung zwischen Todesfällen «mit einer Covid-19-Infektion» und «wegen einer Covid-19-Infektion» nicht durchführbar ist. Dennoch ist dieser Umstand für die Interpretation wichtig: Beispielsweise, wenn – wie in den Medien regelmässig vorgenommen – Sterblichkeitsraten aus «Covid-19-Todesfällen» und «Infizierten» gebildet und diskutiert werden.

Berücksichtigt man, dass die Zahl der Infizierten in der Schweiz im Wesentlichen unbekannt ist, lässt sich auch nicht der Prozentsatz Infizierter ermitteln, die intensiv-medizinisch betreut werden müssen. Eine Abschätzung aus der Gruppe der positiv getesteten Personen ist aus den oben beschriebenen Gründen kaum mit akzeptabler Genauigkeit möglich. Der Versuch, durch Verlangsamung der Infektionsraten die Anzahl derjenigen, die intensivmedizinisch betreut werden müssen, auf ein Mass zu halten, das durch vorhandene Kapazitäten gerade noch gedeckt werden kann – und damit den «Lockdown» auf ein notwendiges Niveau zu bringen – ist vor dem Hintergrund der Schätzunsicherheiten problematisch. Die Generierung zuverlässiger Daten lässt sich dabei nach unserem Dafürhalten nur durch regelmässige Zufallsstichproben (zum Beispiel durch wöchentliche Tests zufällig ausgewählter Personen) und unter Berechnung des Stichprobenfehlers erzielen.

Gesamtheitliche Betrachtung tut Not

Damit ist aber keinesfalls gesagt, die ergriffenen Massnahmen wären auf Basis der vorliegenden Informationen nicht vertretbar und notwendig. Auch lässt sich nicht folgern, die aus Covid-19 resultierende Gefahr sei über- oder unterschätzt worden. Um jedoch für die Zukunft eine Abwägung von Risikomanagementmassnahmen treffen zu können, muss vor allem an einer Verbesserung der Datenbasis gearbeitet werden. Damit sollte auch bei der Bewertung von Risikomanagementmassnahmen versucht werden, eine gesamtheitliche Betrachtung zu ermöglichen. Die zu kurz greifende Abwägung der Medien – Reduzierung von Todesfällen versus wirtschaftliche Einbussen und daraus resultierende gesellschaftliche Folgen unserer Bevölkerung – übersieht den Umstand, dass in einer globalisierten Welt Produktions- und Lieferketten in der sogenannten Dritten Welt beginnen, für deren Bevölkerung ein «Lockdown» tödliche Konsequenzen bringen kann.

[1] Als Beispiel unter vielen sei an dieser Stelle die NZZ vom 14. April 2020 zitiert: «Bisher sind in der Schweiz seit Ausbruch der Krise 25 768 Personen mit dem Coronavirus infiziert worden, 1139 Personen sind daran verstorben. Zwar infizieren sich die Menschen weiter, die Rate ist aber leicht rückläufig.»

[2] Ob diese Annahme zulässig ist, müsste natürlich auf Basis einer statistischen Untersuchung überprüft werden.  

* Hato Schmeiser ist Professor und geschäftsführender Direktor der Instituts für Versicherungswirtschaft an der Universität St. Gallen.