Versicherbarkeit von Toprisiken
Kapitel
Die Coronakrise offenbart massive Schutzlücken
Wie hat die Versicherungsbranche die Coronakrise bisher gemeistert? Und welche Lehren sollten die Unternehmen, die Gesellschaft und die Politik aus der Krise ziehen? Ruedi Kubat (Allianz Suisse) und Ivo Menzinger (Swiss Re) ziehen eine Zwischenbilanz.
Das nächste Grossereignis folgt früher oder später
Die Coronakrise hat eindrücklich gezeigt, wie schwerwiegend und vielschichtig die Folgen eines solchen Grossereignisses sein können. Nebst der Pandemie gibt es noch weitere Toprisiken, die in Zukunft auf uns zukommen könnten.
Während diese Zeilen geschrieben werden, hat die Coronakrise die Welt schon seit über einem Jahr fest im Griff. Die Pandemie stellt auch die Schweizer Versicherungsbranche vor massive Herausforderungen. Trotzdem handelt es sich bei der Coronapandemie weder um das erste noch um das einzige Grossrisiko-Ereignis. «Toprisiken gab es schon immer – auch ausserhalb der Versicherungswelt», sagt Eduard Held, Geschäftsführer des Elementarschadenpool beim Schweizerischen Versicherungsverband SVV. Als Beispiel nennt er Vulkanausbrüche oder andere überregionale Naturereignisse. «Mit dem technologischen Fortschritt und dem gesellschaftlichen Wandel kamen andersartige Risiken dazu, wie zum Beispiel Flugzeugabstürze und Terrorakte.» Zudem habe sich der Wirkungskreis von potenziellen Toprisiko-Ereignissen durch die Globalisierung stetig vergrössert – dies insbesondere aufgrund der zunehmenden Komplexität der Lieferketten sowie der immer stärkeren Abhängigkeiten innerhalb der globalen Gemeinschaft.
Eduard Held hat per 1. Oktober 2020 die Geschäftsführung des Elementarschadenpools übernommen.
Poollösungen für Elementarschäden und nukleare Risiken
Strommangellage als grösste Gefahr
Obwohl keine universelle Definition für den Begriff Toprisiko existiert, gibt es Kriterien, die alle erfüllen: «Solche Ereignisse haben eine relativ geringe Eintrittswahrscheinlichkeit, weisen dafür aber ein signifikantes Schadenpotenzial auf», fasst Eduard Held zusammen. Häufig verstossen sie zudem gegen eine oder mehrere Bedingungen der Versicherbarkeit. Im Risikobericht des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz (BABS) werden Toprisiken in die Bereiche Natur, Technik und Gesellschaft unterteilt. Als grösstes Risiko hat das BABS im Jahr 2020 die Strommangellage eruiert. Im beschriebenen Szenario wurde eine Stromunterversorgung von 30 Prozent während mehrerer Monate im Winter angenommen. Ein solches Szenario könnte in der Schweiz laut dem BABS-Bericht zu aggregierten ökonomischen Schäden von über 180 Milliarden Franken führen. Damit rangiert das Ereignis, das gemäss BABS einmal in zirka 30 bis 50 Jahren auftreten könnte, als grösstes Risiko für unser Land, noch vor dem Pandemierisiko oder einem flächendeckenden Ausfall des Mobilfunks. «Bei solchen Grössenordnungen und gleichzeitig begrenzter Diversifizierbarkeit stossen Versicherungen an ihre Grenzen», betont Held. Obwohl es sich bei der Strommangellage und bei der Pandemie um zwei gänzlich unterschiedliche Ereignisse handelt, existieren dennoch Parallelen zwischen den beiden Szenarien. Wie bei der Pandemie könnte der Bundesrat auch im Falle einer Strommangellage die ausserordentliche Lage ausrufen. «Behördliche Entscheide können wirtschaftliche Aktivitäten beeinträchtigen und zu versicherten Schäden führen», sagt Held. «Zudem ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass bei einer Strommangellage auch andere Länder oder sogar grössere Regionen betroffen sind, was eine hohe Korrelation von Schäden mit sich bringen kann.» Obwohl die Gefahr der Strommangellage bekannt ist, bestehe diesbezüglich bei der Versicherungsbranche noch Handlungsbedarf, sagt Eduard Held. «Die Bedeutung der Strommangellage ist anerkannt. Es braucht aber noch Anstrengungen, die konkreten Auswirkungen einer Strommangellage auf die Versicherungsbranche zu verstehen.»
Von der Strommangellage bis zur Trockenheit: das sind die zehn grössten Risiken für die Schweiz
- Strommangellage
- Grippe-Pandemie
- Ausfall Mobilfunk
- Hitzewelle
- Erdbeben
- Stromausfall
- Sturm
- Ausfall Rechenzentrum
- Andrang Schutzsuchender
- Trockenheit
Prävention: kleiner Aufwand, hoher Nutzen
Egal ob Strommangellage, eine neue Pandemie oder eine flächendeckende Cyberattacke: Eduard Held hat keinen Zweifel daran, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis das nächste Grossereignis folgt. Offen ist, wie die Schweiz in Zukunft mit solchen Toprisiken umgehen wird. «Manche verstehen die Schweiz quasi als eine Vollkaskogesellschaft, in der der Staat dafür sorgt, dass niemand mehr ein grösseres Risiko selber tragen muss», sagt Eduard Held. In «schmerzlichem Widerspruch» dazu stehe die Erfahrung nach jeder unerwarteten Katastrophe, dass dies nicht möglich ist. Held betont: «Es kann keine Null-Risiko-Gesellschaft geben.» Umso wichtiger sei es, für jede Reduktion des Risikos eine Kosten-Nutzen-Abwägung durchzuführen. Zudem übernehme auch die Prävention eine wichtige Rolle. Dies habe nicht zuletzt die Pandemie gezeigt: «Wer sich selbst und andere schützt – etwa indem er einfache Hygieneregeln befolgt oder sich impfen lässt – kann damit die Eintretenswahrscheinlichkeit, aber auch das Schadenausmass beim Ereigniseintreffen vermindern. «Auch bei Naturgefahren bestehen sehr effektive Präventionsmassnahmen», sagt Held. Als Beispiele nennt der Geschäftsführer des Elementarschadenpools eine sinnvolle Raumplanung, erdbebensicheres Bauen oder Hochwasserschutz. «Oft lohnt sich die Prävention, weil Vorbeugungsmassnahmen ein ausgezeichnetes Aufwand-Nutzen-Verhältnis beinhalten können. Der eingesparte Schaden ist über die Zeit oft viel grösser als der für die Prävention erforderliche Aufwand .» Eduard Held geht davon aus, dass das Coronavirus den Umgang der Gesellschaft mit Grossrisiken verändern wird. «Die Coronakrise hat uns auf schmerzliche Art und Weise in Erinnerung gerufen, dass wir mit unbekannten Risiken leben müssen und nicht jede Unsicherheit ausschliessen können. Zudem zeigt sie uns, wie verletzlich wir als Gesellschaft sind.»
Neuer Geschäftsführer Elementarschadenpool
Am 1. Oktober 2020 hat Eduard Held die Geschäftsführung des Elementarschadenpools übernommen. Der Pool – ein als einfache Gesellschaft organisierter Zusammenschluss der Schweizer Privatversicherer mit Geschäftsstelle beim SVV – ermöglicht einen zweifachen Ausgleich: unter den Versicherungsnehmern und unter den beteiligten Versicherern. Geschaffen wurde er bereits 1936. In der Elementarschadenversicherung sind Gebäude und Fahrhabe gegen Naturgefahren versichert. Diese können enorme Schäden anrichten. Trifft ein Naturereignis eine Region, sind die Versicherer je nach Marktanteil in der Region unterschiedlich betroffen. Der Elementarschadenpool verteilt 80 Prozent der Schadensumme auf die angeschlossenen Versicherer gemäss nationalem Marktanteil. Für besonders schadenreiche Jahre besteht zusätzlich eine Deckung durch Rückversicherungen.
Nicht alles ist versicherbar
Der Phantasie sind praktisch keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, aufzuzählen, was alles versichert werden kann. Die Politikphilosophin Katja Gentinetta erklärt, warum es aber immer noch Dinge gibt, die sich nicht oder nur schwer versichern lassen, selbst wenn wir dies wollten?
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