Erdbebenrisiken sind versicherbar und benötigen keine staatlichen Scheinlösungen
Die Politik will die Schweiz besser vor den Folgen schwerer Erdbeben schützen: Mit der sogenannten Eventualverpflichtung sollen Hauseigentümer im Ereignisfall zur Kasse gebeten werden. Es gibt viel bessere Wege, mit diesem Grossrisiko umzugehen, meint Urs Arbter.
Hätten wir die Möglichkeit, in eine Zeitmaschine zu steigen und ins Jahr 2019 zu reisen – vor dem Ausbruch der Coronapandemie – was würden wir tun?
Vermutlich würden wir einige Dinge anders machen. In Bezug auf Corona würden wir mehr in die Vorbereitung investieren, im Wissen, dass solche Ereignisse nicht dauerhaft verhinderbar sind. Wir würden Strukturen aufbauen, um schnell und effizient reagieren zu können. Damit könnten wir Leid, aber auch die Staatsverschuldung reduzieren. Nicht zu vergessen: Im ersten Coronajahr musste die Eidgenossenschaft Kredite in der Höhe von 38 Milliarden Franken sprechen. Beiträge, die schlimmstenfalls in Schulden münden – und die die nächste Generation zu tragen hätte.
Zeitreisen liegen auch für uns Versicherer jenseits des Möglichen. Aber wir können einen wichtigen Beitrag zur Linderung der finanziellen Folgen von Risiken leisten, mit denen wir in Zukunft rechnen müssen. Erdbeben stellen ein solches Risiko dar.
Obwohl grosse Erdstösse in der Schweiz äusserst selten sind, haben sie das Potenzial, verheerende Schäden anzurichten. Ein Ereignis mit einer Wiederkehrperiode von 500 Jahren würde heute einen modellierten volkswirtschaftlichen Schaden von 30 bis 40 Milliarden Franken verursachen. Das ist eine gewaltige Summe. Das Risiko verteilt sich nicht gleichmässig über die Zeit, sondern wird vor allem von seltenen, katastrophalen Erdbeben geprägt, die sich meist ohne Vorwarnzeit ereignen. Die Hoffnung, dass uns der «Tag X» noch lange nicht bevorsteht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir für den Ernstfall vorsorgen müssen.
Aus nüchterner Versicherungsperspektive hat das Erdbebenrisiko gegenüber der Pandemie einige Vorteile: Ein schweres Erdbeben verursacht zwar viel Leid und Zerstörung, ist aber regional begrenzt. Ein globales Ausmass wie bei der Coronapandemie ist ausgeschlossen. Erdbeben treten zudem zufällig und unabhängig voneinander auf. Dies macht das Risiko berechenbar und damit versicherbar. Will heissen: Erst- und Rückversicherer verfügen über die Kapazitäten, um Erdbebendeckungen in grossem Umfang anzubieten, wie die Erbeben in Neuseeland von 2010 und 2011 gezeigt haben. Trotzdem haben sich heute in der Schweiz noch immer viel zu wenige der Hauseigentümer gegen Erdbebenrisiken abgesichert. Viele von ihnen sind sich dieser Schutzlücke gar nicht bewusst. An der nötigen Sensibilisierung arbeitet die Versicherungswirtschaft.
Diesen Bedarf hat lobenswerterweise auch die Politik erkannt, will ihn aber nun mit falscher Medizin angehen. Mit der Annahme der Motion «Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung» hat das Parlament den Bundesrat beauftragt, einen entsprechenden Vorschlag vorzulegen. Dieser sieht vor, die Hauseigentümer zu verpflichten, im Erdbebenfall einen Beitrag von bis zu 0,7 Prozent der Gebäudeversicherungssumme zur Schadensdeckung zu leisten. So unterstützungswert die Absicht ist, so fragwürdig ist die Umsetzung. Es erscheint zynisch, Rechnungen an Hausbesitzer verschicken zu wollen, kurz nachdem ein Erdbeben Hab und Gut zerstört hat. Das ist nicht durchsetzbar. Eine Eventualverpflichtung ist nichts weiter als eine Scheinlösung, die bei schönem Wetter das wohlige Gefühl vermittelt, vorbereitet zu sein, bei Sturm aber als Konzept in der Schublade verschwindet. Übrig bliebe mit hoher Wahrscheinlichkeit die Übernahme der finanziellen Verpflichtungen durch den Staat und damit wieder Schulden, die den nächsten Generationen aufgebürdet würden. Nachsorge statt Vorsorge.
Trotz aller Datenmodellierungen und Frühwarnsysteme müssen wir uns damit abfinden, dass wir nicht wissen, in welcher Generation sich ein Erdbeben ereignen wird. Ein solch seltenes, aber verheerendes Ereignis erfordert daher Solidarität in doppelter Hinsicht: einerseits zwischen den Generationen, andererseits zwischen Menschen mit unterschiedlicher Risikoexposition. Genau dies wird in der Elementarschadenversicherung seit Jahrzehnten gelebt. Es wäre deshalb naheliegend, Erdbeben als zehnte Gefahr – neben Hochwasser, Überschwemmung, Sturm, Hagel, Lawinen, Schneedruck, Felssturz, Steinschlag und Erdrutsch – in die Elementarschadenversicherung aufzunehmen. Damit profitieren die Versicherten von einem bewährten System. Es umfasst nicht nur Gebäude, sondern ebenso die darin befindlichen Mobilien.
Versicherungen sind langfristig und vorsorgend angelegt. Ihr gesellschaftlicher Nutzen besteht darin, dass im Ernstfall die Mittel vorhanden sind, um Schäden rasch zu beheben. Diese Rolle kann die Versicherungswirtschaft beim Erdbebenrisiko übernehmen. Der Staat kann sich in diesem Fall getrost auf seine eigentliche Aufgabe beschränken: Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Privatwirtschaft echte Lösungen anbieten kann.
Dieser Kommentar ist am 26.10.2024 in der NZZ erschienen.
Über Urs Arbter
Urs Arbter, 59, ist seit 2022 Direktor des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV. Nach einer kaufmännischen Banklehre erwarb er das Lizentiat in Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen und ist Absolvent des Stanford Executive Program. Seine berufliche Laufbahn führte ihn in leitende Funktionen bei verschiedenen nationalen und internationalen Versicherungsunternehmen.