Von einem freien Wohnungsmarkt profitieren alle
Zu wenig Wohnungen, steigende Mieten: Reflexartig folgt der Ruf nach mehr Staat. Zu Unrecht.
In der Schweiz fehlen jedes Jahr rund 10 000 Wohnungen. Der Grund: Es wird zu wenig gebaut – und gleichzeitig wächst die Bevölkerung. Der Schweizer Wohnungsmarkt steuert auf eine akute Wohnungsnot zu. Das hat nicht nur zur Folge, dass die Wohnungssuche deutlich schwieriger wird, sondern auch, dass die Mieten steigen.
Die Schuldigen für die Wohnungsmisere sind schnell ausgemacht: die institutionellen Anleger und ihre «Renditegier». Mit anderen Worten: der freie Markt. Entsprechend schnell werden Forderungen nach staatlichen Wohnungsbauprogrammen, Subventionen für Genossenschaften und staatliche Mietzinsbremsen laut. Zu Recht?
Michele Salvi ist Chefökonom beim SVV.
Versicherer spielen eine wichtige Rolle
Rund die Hälfte der Mietwohnungen befindet sich zwar nach wie vor in Privatbesitz, doch die Bedeutung institutioneller Anleger hat in den letzten Jahren zugenommen. Im Schweizer Durchschnitt gehört ein Drittel der Mietwohnungen Versicherungsunternehmen, Pensionskassen oder Anlagefonds. Gemäss einer groben Schätzung von Wüest & Partner befindet sich rund ein Viertel davon im Besitz von Schweizer Versicherern.
Insbesondere für die Privatversicherer sind Immobilien eine wichtige Anlageklasse. Derzeit sind rund zehn Prozent ihrer Kapitalanlagen in Immobilien investiert. Sie kaufen Liegenschaften, weil sie an laufenden Mieteinnahmen interessiert sind. Zudem haben sie in den vergangenen Jahren ihre Immobilienbestände aufgestockt, um die Erträge aus auslaufenden Obligationen zu ersetzen. Dementsprechend sind die Immobilienportfolios – wie das Versicherungsgeschäft selbst – langfristig ausgerichtet.
Verantwortungsbewusste Investoren
Die Privatassekuranz ist an diversifizierten Immobilienportfolios interessiert. Der Fokus liegt also nicht auf einzelnen Segmenten wie zum Beispiel Luxuswohnungen. Die Diversifikation von Immobilienportfolios hängt von vielen Faktoren ab. Dazu gehören die Standortqualität, die Nutzung der Liegenschaft oder das Alter des Gebäudes. Auch vergleichsweise günstige Wohnimmobilien stellen eine wichtige Kategorie dar, da sie insbesondere in Phasen konjunktureller Schwankungen sehr resistent gegenüber Wertkorrekturen sein können.
Steigende Mieten sind dabei nicht das Ergebnis einer spekulativen Gewinnmaximierung im Immobilienportfolio, sondern in der Regel eine direkte Folge steigender Kosten. Der jüngst angehobene Mietreferenzzinssatz ist Ausdruck dieser Entwicklung. Die Faktoren Inflation, höhere Zinsen und steigende Nebenkosten belasten die Vermieter. Bis zu einem gewissen Grad können diese Kostensteigerungen über höhere Mieten oder Nebenkosten weitergegeben werden. Steigende Marktmieten spiegeln zudem die gestiegenen Baukosten sowie die gestiegene Nachfrage und sind damit ein wichtiges Preissignal.
In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass ein grosser Teil der Mieter direkt oder indirekt über ihre Vorsorgegelder in Immobilienprojekte investiert und somit auch an einer Rendite interessiert ist. Insbesondere Versicherungsunternehmen stehen in einer doppelten Verantwortung: Als Vermieter müssen sie die Bedürfnisse der Mieter nach bezahlbarem und attraktivem Wohnraum erfüllen – und sie legen die Gelder ihrer Versicherten gewinnbringend und diversifiziert an. Die Mieterträge leisten einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber den Versicherten, insbesondere auch im Rahmen der beruflichen Vorsorge.
Mit ihren Investitionen im Immobiliensektor hat die Versicherungswirtschaft in den letzten Jahren aber auch viel dazu beigetragen, dass neuer Wohnraum geschaffen und bestehender Wohnraum saniert wurde. Dieses verstärkte Engagement treibt die Mietpreise jedoch nicht in die Höhe – im Gegenteil. Denn auch der Bau von Luxuswohnungen führt zu mehr bezahlbarem Wohnraum. An attraktiven Wirtschaftsstandorten wie zum Beispiel Zürich, wo viele Gutverdienende wohnen möchten, besteht eine Nachfrage nach solchen Wohnungen. Wird das Angebot für zahlungskräftige Mieter knapp, weichen sie auf günstigere Wohnungen aus und treiben dort die Preise in die Höhe. Wohnungen, die für den freien Markt gebaut werden, senken somit die Mietpreise auf dem gesamten Wohnungsmarkt.
Rahmenbedingungen verbessern
Wenn das Angebot an Wohnraum knapp ist und die Nachfrage steigt, steigen auch die Preise. Auf einem freien Markt würde die hohe Nachfrage in begehrten Wohnlagen naturgemäss zu einer verstärkten Bautätigkeit und zu mehr Wohnungen führen. Von einem wirklich freien Markt ist der Wohnungsmarkt jedoch weit entfernt. Die Wohnungsmisere hat andere Ursachen.
Sie sind vielmehr im reflexhaften Ruf nach dem Staat zu suchen. So einleuchtend das Prinzip von Angebot und Nachfrage auch sein mag: Je mehr Bedingungen und Regulierungen dem Markt auferlegt werden, desto komplexer und ineffizienter wird er. Schon heute schränkt die Raum- und Zonenplanung die Ausweitung des Angebots stark ein. Zudem können Vermieter die Preise für bestehende Mieter nicht beliebig erhöhen.
Die Flucht in die Regulierung ist keine Lösung. Statt immer neue Regulierungen zu schaffen, die den Markt ersticken, ist es an der Zeit, dass sich die Politik besinnt und Rahmenbedingungen schafft, in denen der Markt funktionieren kann. Dazu gehören insbesondere die Erhöhung der Ausnützungsziffern, die Beschleunigung der Bewilligungsverfahren, die Einschränkung der Lärm- und Heimatschutzvorschriften sowie die Reduktion der Einsprachemöglichkeiten. Gleichzeitig können Bedürftige direkt unterstützt werden, um die Mietzinsbelastung zu senken. Von einem freien Wohnungsmarkt profitieren grundsätzlich alle, nicht nur die Investoren.
Dieser Kommentar erschien am 2. Juni 2023 auf handelszeitung.ch/insurance.