«Wer nach­hal­tig agie­ren will, muss auch wirt­schaft­lich den­ken»

Interview

Die Versicherungsbranche ist mit rund 50 000 Mitarbeitenden eine bedeutende Akteurin der Schweizer Wirtschaft. Schon aufgrund ihres langfristig angelegten Geschäftsmodells gehöre Nachhaltigkeit zur DNA der Assekuranz, betont Jean-Philippe Moser, stellvertretender Direktor des Schweizerischen Versicherungsverbandes (SVV). Sie müsse dabei immer gesamtheitlich betrachtet werden.

Dieses Interview ist im Special «Nachhaltig handeln» von NZZ Sustainable Switzerland am 22. Juni 2024 in der NZZ erschienen. / Autor: Marius Leutenegger

Der Klimawandel sorgt für neue Risiken – und damit für zusätzlichen Versicherungsbedarf. Zudem lassen sich Ausgaben für Schäden auf die Prämien überwälzen. Warum sind Versicherungsgesellschaften überhaupt an Nachhaltigkeit interessiert?

Jean-Philippe Moser: Tatsächlich gehört es zu den Aufgaben der Assekuranz, Risiken, die dem Klimawandel folgen, zu versichern. Aber niemand hat ein Interesse daran, dass es zu Schäden kommt: Wer eine Autoversicherung abgeschlossen hat, will auch keinen Unfall haben, und die Versicherer freuen sich über Kundinnen und Kunden, die unfallfrei unterwegs sind. Ziel der Versicherungswirtschaft ist es, dazu beizutragen, dass die Menschen ihre Risikoeinschätzung reflektieren und sich finanziell abgesichert fühlen. Dabei ist die Branche grundsätzlich sehr langfristig ausgelegt. Wir versichern künftige und auch langfristige Risiken, etwa in der Altersvorsorge. Zudem sind wir eine der ersten Industrien, die den Klimawandel zu spüren bekommt. Er wirkt sich sehr direkt auf unser Geschäft aus, etwa bei Naturgefahren und Elementarschäden. Daher ist es selbstverständlich, dass sich die Branche intensiv mit Nachhaltigkeit beschäftigt und sich auch in der Prävention stark engagiert.

Was kann die Versicherungsbranche zur Nachhaltigkeit beitragen?

Jeder kann und muss einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten. Aus Interesse für die Gesellschaft von morgen – und auch im eigenen Interesse. Für die Versicherer stellt sich, wie für alle Unternehmen, die Frage: Was können wir innerhalb unseres Betriebs tun? Hier passiert in der Branche bereits sehr viel, vom Abfallkonzept über die energetische Sanierung von Bürogebäuden bis hin zur Reduzierung von Geschäftsreisen. Aber auch ausserhalb des Unternehmens gilt es, Nachhaltigkeit zu fördern. Auch hier geschieht viel: So werden Lehrstühle im Klimabereich finanziert, es wird viel Präventionsarbeit initiiert und finanziert und so weiter. Zudem motivieren wir unsere Mitarbeitenden dazu, in allen Lebensbereichen verantwortungsvoll zu handeln.

Einen bedeutenden Einfluss können Versicherer mit dem Geld ausüben, das sie in Form von Prämien oder Beiträgen erhalten und anlegen. Es geht um Kapitalanlagen in der Grössenordnung von rund 540 Milliarden Franken.

Die Versicherungsbranche trägt eine grosse Verantwortung dafür, dass dieses Kapital richtig eingesetzt wird. Hier zeigt sich auch, dass Nachhaltigkeit eben nicht allein auf den ökologischen Aspekt reduziert werden kann. Wer langfristig Renditen am Markt erzielen will, muss ökologische und ökonomische Ziele ausgewogen berücksichtigen. Wer Kundenerwartungen zu erfüllen hat, muss auch in Jahren und Jahrzehnten noch Renditen ermöglichen, um zum Beispiel Renten zu finanzieren. Wer nachhaltig agieren will, muss auch wirtschaftlich denken. Ein Beispiel: Die Dekarbonisierung unserer Gesellschaft kostet Geld. Dieses Geld müssen Unternehmen verdienen können, um Investitionen tätigen zu können. Beim Klimaschutz sind ökonomisch erfolgreiche Marktwirtschaften oft innovativer. Ökologische Nachhaltigkeit
auf Kosten der ökonomischen Nachhaltigkeit ist riskant. Denn die ökologische Nachhaltigkeit baut auch auf Innovation, welche marktwirtschaftlich getrieben sein muss.

Jean-Philippe Moser

Jean-Phiippe Moser ist Leiter Versicherungsbranchen und Stellvertretender Direktor des SVV.

In seinem Nachhaltigkeitsreport schreibt der SVV, ein steuermildes Umfeld sei unabdingbar, damit die Wirtschaft die notwendigen Mittel für die Dekarbonisierung erwirtschaften könne. Die Schweiz hat ein recht steuermildes Umfeld. Was fordern Sie konkret?

Dass der Staat mit den Geldern, die ihm zur Verfügung stehen, nachhaltig umgeht. Gerät ein Haushalt aus dem Gleichgewicht, können entweder die Kosten gesenkt oder die Einnahmen erhöht werden. Die Forschung zeigt, dass es nachhaltiger ist, die Kosten zu senken, als neue Steuern zu schaffen. Es geht um den sorgsamen Umgang mit unseren Ressourcen, den ökologischen wie den finanziellen. Ein wichtiges Prinzip der Nachhaltigkeit lautet, unsere Bedürfnisse heute so zu befriedigen, dass wir die Möglichkeiten künftiger Generationen nicht einschränken. Doch genau das tun wir im Moment: Wir bürden den künftigen Generationen grosse Lasten auf. Auch bei den Pensionskassen findet eine Umverteilung zwischen den Generationen statt: Werden die jährlichen Umverteilungssummen von 2014 bis 2022 addiert, wurden gemäss den Schätzungen der Oberaufsichtskommission der beruflichen Vorsorge OAK BV innerhalb von neun Jahren 45,1 Milliarden Franken von den aktiven Versicherten zu den Rentenbeziehenden umverteilt. Das schränkt den Handlungsspielraum der Jungen und der künftigen Generationen ein. Nachhaltig ist das jedenfalls nicht.

15 Schweizer Versicherer sind Mitglied bei der Net-Zero Asset Owner Alliance (NZAOA). Mitglieder verpflichten sich, ihre Portfolios bis 2050 klimaneutral auszugestalten. Was bedeutet das konkret? Und was ist eigentlich eine nachhaltige Anlage genau?

Generell gilt es für Anlegerinnen und Anleger verständlich darzulegen, inwiefern ein Produkt verträglich mit Nachhaltigkeitszielen ist oder einen Beitrag zur Erreichung derselben leistet. Dennoch bleibt es eine schwierige Frage, wie mit nachhaltigen Anlagen umzugehen ist. Investitionen in CO2-arme Energieträger können Investitionen in Atomkraft begünstigen, derweil bestimmte Länder aus der Atomenergie aussteigen und stattdessen in Gas und Kohle investiert haben. Die Politik ändert sich, auch Befindlichkeiten und die Wahrnehmung von Nachhaltigkeit können sich ändern. Auch bisher sehr anerkannte Beratungsunternehmen für Klimaschutzprojekte sind kürzlich in die Kritik geraten. Plötzlich zeigt eine gut gemeinte Nachhaltigkeitsbemühung Nebenwirkungen und wird nicht mehr als nachhaltig erkannt. Vielleicht, weil sie zu einseitig war, detaillierter und starrer Regulierung folgte oder schlicht nicht breit genug angedacht war.

«Ökologische Nachhaltigkeit auf Kosten der ökonomischen Nachhaltigkeit ist riskant.»

Wie findet die Assekuranz da den richtigen Weg?

Letztlich geht es immer um die Bedürfnisse der Kunden und um die Anwendung eines breiten und ausgewogenen Nachhaltigkeitsverständnisses. Das Nachhaltigkeitsbewusstsein ist sowohl bei den Privatkundinnen und -kunden wie auch bei den zu versichernden Unternehmen sehr breit vorhanden. Entscheidend ist deshalb ein klares Bekenntnis zu einem nachhaltigen Finanzplatz – und ein schrittweises Vorgehen. Wir alle haben ein vitales Interesse an einem langfristig erfolgreichen Finanzplatz. Einer der Gründe für den Erfolg der Schweizer Wirtschaft ist die Partizipation: Es wird nicht einfach von oben herab entschieden, sondern die Betroffenen setzen sich zusammen und suchen nach Lösungen. Auch darum hat der Bundesrat die Akteure des Finanzplatzes aufgefordert, im Bereich des «Greenwashings» die Selbstregulierung weiterzuentwickeln und gemeinsam umzusetzen. Die Asset Management Association, die Schweizerische Bankiervereinigung und der Schweizerische Versicherungsverband arbeiten eng zusammen, um Standards zu Nachhaltigkeitsthemen mitzugestalten.

Welchen Einfluss können Versicherer auf ihre Kundinnen und Kunden nehmen, indem sie zum Beispiel bestimmte Risiken nicht mehr versichern oder Prämienanreize für bestimmte Verhaltensweisen setzen?

Vielfalt und Wahlfreiheit sind wichtige Werte in unserer Gesellschaft. Wir können helfen, Ziele zu erreichen, aber wir sollten mündige Konsumentinnen und Konsumenten nicht bevormunden. Die Wahl des Autos ist ein gutes Beispiel für einen Bereich, in dem die Menschen oft gut informiert diskutieren. Die Leute wissen im Grundsatz, was sie tun. Man muss ihnen jedoch die Informationen geben, dann kann man ihnen auch vertrauen. Aber Unternehmen können sich unterschiedlich positionieren: Wenn im Markt ein Versicherungsunternehmen besonders attraktive Angebote für bestimmte Verhaltensweisen macht, kann das eine bestimmte Kundengruppe ansprechen. Es wird aber auch Angebote für andere Teile der Gesellschaft geben müssen. Als Branche müssen wir Risiken versichern, das ist unsere bedürfnisgetriebene Daseinsberechtigung. Der Staat muss den gesetzlichen Rahmen für das setzen, was legal ist. Innerhalb dieses Rahmens müssen sich die Kundinnen und Kunden wie die Unternehmen bewegen. Als Industrie ist es zum Beispiel schwierig zu sagen: «Das Reservekraftwerk in Birr mit seinen Gasturbinen versichern wir nicht, weil es uns nicht nachhaltig genug ist». Denn die Gesellschaft könnte auf dieses Kraftwerk angewiesen sein. So gibt es immer Zielkonflikte, die sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen.

Kurzfristig kostet Nachhaltigkeit Geld – oft in Form von Investitionen. Immer wieder ist zu sehen, dass die Konsumentinnen und Konsumenten zwar Nachhaltigkeit fordern, aber nicht bereit sind, dafür auch zu bezahlen. Gilt das auch in der Assekuranz?

Menschen verfolgen fast immer mehrere Ziele. Und ich bin überzeugt, dass Nachhaltigkeit ein echtes Bedürfnis sehr breiter Bevölkerungskreise ist. Aber es ist eben nicht das einzige Ziel, das die Menschen haben. Und das darf auch so sein. Deshalb ist die Ausgewogenheit und die breite Perspektive von Nachhaltigkeit so wichtig, gerade auch für die Nachhaltigkeitsanliegen selbst. Wer nachhaltig sein will, muss auch wirtschaftlich denken. Das bringt die besten Ergebnisse, auch die nachhaltigsten.

Je stärker Nachhaltigkeit in den Fokus rückt, desto mehr nimmt auch die Regulation auf diesem Gebiet zu. Wie stehen Sie dazu?

Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem man sich fragen muss, was die einzelnen Vorgaben bringen. Die Bürokratie hat in den letzten Jahren weiter zugenommen.
Es besteht die Gefahr, dass die Kosten dadurch immer höher werden und den Nutzen übersteigen. Das Streben nach Nachhaltigkeit darf nicht zu einem Papierkrieg gegen den Klimawandel verkommen. Nachhaltigkeit ist zu wichtig, um sie zu bürokratisieren oder politisch zu ideologisieren. Mehr Regulierung bedeutet nicht zwingend mehr Nachhaltigkeit, vor allem nicht langfristig. Das Gegenteil kann der Fall sein. Dann nämlich, wenn die Bürokratie dringend notwendige Innovationen verhindert. Damit sind wir zurück beim Gleichgewicht: Einzelne Schritte müssen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Es geht nicht um Gut und Böse, sondern darum, Nachhaltigkeit aus einer Gesamtsicht anzustreben. Wir sollten immer im Blick behalten, dass nachhaltiges Denken ohne Scheuklappen die Voraussetzung für unseren Wohlstand und unsere sozialen Errungenschaften ist.