«Beim Co­ro­na­vi­rus brennt es über­all gleich­zei­tig»

Interview

Die Coronakrise stellt auch die Schweizer Versicherer vor grosse Herausforderungen. Professor Martin Eling, Versicherungsökonom und Professor an der Universität St. Gallen, erläutert, welche Lehren die Branche aus der jetzigen Situation ziehen sollte – und warum Grossrisiken wie Pandemien, Terrorattacken oder Cyberangriffe nur schwer versicherbar sind.

Interview: Daniel Schriber

Herr Professor Eling, welches Zeugnis stellen Sie der Versicherungsbranche in diesen Tagen aus?

Eigentlich ein recht Gutes, denn immerhin stehen wir mitten in der grössten Disruption seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Bislang scheinen die Versicherer weitgehend gut durch die Krise zu kommen. Auf der Anlageseite profitieren die Versicherer von ihrer konservativen, risikoarmen Anlagepolitik. Auf der Versicherungsseite sehen sich insbesondere die Kranken- und Rückversicherer mit höheren Schadensummen konfrontiert – bislang scheint aber alles im Rahmen zu bleiben.

Was macht die Coronakrise für die Versicherer besonders herausfordernd?

Gerade für die zuletzt genannten Kranken- und Rückversicherer ist es schon eine Herausforderung, wenn höhere Schadenforderungen nun mit schlechten Ergebnissen an den Kapitalmärkten zusammentreffen. Ein schlechtes Jahr an den Kapitalmärkten oder ein Jahr mit hohen Schadenzahlungen ist isoliert betrachtet noch kein grosses Problem. Wenn aber beides zusammenkommt, wird es schwieriger. Auch die indirekten Effekte des jetzt folgenden Wirtschaftseinbruchs auf die Versicherungsnachfrage sind nicht zu unterschätzen. So ist beispielweise mit einem Rückgang des Prämienvolumens zu rechnen, wenn die Wirtschaft dieses Jahr einbrechen sollte.
 

Professor Martin Eling, HSG

Professor Martin Eling, Lehrstuhlinhaber und Direktor am Institut für Versicherungswirtschaft

Gab es in der jüngeren Vergangenheit vergleichbare Situationen für die Branche?

Wir können auf die Erfahrung der Finanzkrise im Jahr 2008 zurückgreifen. Auch damals waren in bestimmten Versicherungszweigen höhere Schadenforderungen zu beobachten – dies in Kombination mit einer schlechten Performance an den Kapitalmärkten. Schon in dieser Zeit bewährte sich die vorsichtige, auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Anlagestrategie der Versicherer.

«Das Coronavirus sprengt den Rahmen der Versicherbarkeit.»

Viele Versicherungsunternehmen stehen aktuell in der Kritik: Dies, weil der Versicherungsschutz beim Coronavirus meist nicht greift. Können Sie den Frust der Versicherten nachvollziehen?

Natürlich kann ich die Reaktion der Leute auf der Strasse verstehen. Aber es handelt sich nun mal um ein Ereignis, dass grundsätzlich den Rahmen der Versicherbarkeit von Risiken sprengt. Dies ist in der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt, weshalb die Leute nun über die «bösen» Versicherer schimpfen.

Was unterscheidet den Fall «Coronavirus» von einem Werksbrand?

Wir sprechen hier von einem Kumulereignis. Dabei handelt es sich um ein Ereignis, bei dem viele – mitunter sogar alle Versicherungsnehmer – gleichzeitig einen Schadenfall haben. Ein solches Ereignis ist nicht versicherbar, weil dann die Bündelung von Risiken keinen Diversifikationseffekt mehr bringt. Um dieses sogenannte Pooling aufzufangen, müssten die Prämien für eine entsprechende Versicherung exorbitant hoch sein. Bei einem Werksbrand werden niemals alle Industrieanlagen der Schweiz gleichzeitig brennen, weshalb für diesen Fall ein Versicherungsschutz zu günstigen Preisen möglich ist. Beim Coronavirus brennt es hingegen überall gleichzeitig.

Offenbar haben viele Gastronomen eine Versicherung, die sie bei einer Epidemie schützt. Das nützt ihnen nun jedoch nichts. Gastro-Suisse Präsident Casimir Platzer sagt dazu: «Die Spitzfindigkeit der Versicherungen, dass zwischen Epidemie und Pandemie unterschieden wird, ist ein absolutes No-Go.» Der Ombudsmann der Privatversicherer und der Suva hält in dieser Frage dagegen. Wie sehen Sie das aus der Warte des Versicherungsökonomen?

Die Differenzierung zwischen Epidemie und Pandemie als Spitzfindigkeit abzutun, ist natürlich – besonders in Bezug auf die momentane Lage – ziemlich schräg. Wenngleich es vermutlich schon so ist, dass der Unterschied zwischen Epidemie und Pandemie bis zur jetzigen Krise kaum bekannt gewesen sein dürfte. Aus versicherungsökonomischer Sicht verläuft zwischen Epidemie und Pandemie aber eben genau die Grenze der Versicherbarkeit. Das Risiko einer regional begrenzten Epidemie lässt sich mit Hilfe der Rückversicherung global diversifizieren. Bei einer globalen Pandemie geht das nicht mehr. Für derartige Extremereignisse braucht es andere Risikomanagementinstrumente, die wir auch schon für andere Extremrisiken wie Terror- oder Nuklearrisiken etabliert haben.

Müssten die Versicherungen in solchen Fällen nicht kulanter sein?

Wir lesen von vielen prekären Einzelfällen. Natürlich würde ich mir auch wünschen, dass allen geholfen werden kann. Dies muss aber im Rahmen staatlicher Hilfspakete erfolgen und nicht durch die Aushöhlung fundamentaler Versicherungsprinzipien. Der Versicherungsschutz und der Preis dafür sind auf Grundlage vorab definierter Spielregeln definiert. Diese Spielregeln im Nachhinein zu verändern, erscheint mir nicht sinnvoll.

Gibt es weitere Risiken, die grundsätzlich nicht oder nur beschränkt versicherbar sind?

Da gibt es viele Beispiele. Etwa haben wir in der Schweiz einen Elementarschadenpool, der die Auswirkungen bestimmter Naturereignisse national bündelt. Dasselbe gilt im Bereich von Nuklear- oder Terrorrisiken. Alles extreme Risiken, bei denen eine Versicherung ohne Poollösungen für einzelne Risiken derart hohe Prämien verlangen müsste, dass kein Versicherungsschutz zu bezahlbaren Preisen möglich wäre.

Müssten solche Deckungseinschränkungen eventuell klarer kommuniziert werden?

Das sollte aus meiner Sicht das zentrale «Learning» für die Versicherer sein, dass sie ihren Kundinnen und Kunden Ausschlüsse und Deckungsgrenzen noch besser kommunizieren müssen. Dies scheint mir nicht bei allen Versicherten so klar angekommen zu sein.
 

Wer entscheidet, ob ein Risiko versicherbar ist? 

In einem freien Markt entscheiden dies Angebot und Nachfrage. Wenn Sie einen Versicherer finden, der Ihnen Versicherungsschutz zu einem in Ihren Augen angemessenen Preis anbietet, dann ist das Risiko versicherbar. Sonst nicht. Nebst dieser empirischen Betrachtung gibt es auch normative Kriterienkataloge, anhand derer sich die Versicherbarkeit bewerten lässt – dies gerade auch bei neuartigen Risiken, wie zum Beispiel Cyberattacken.

«Neue Risiken wie Cyberattacken sind schwer versicherbar.»

Wie begegnen die Versicherer Grossrisiken wie Erdbeben oder Nuklearrisiken?

Üblicherweise sind solche Grossrisiken in einem freien Markt nicht oder nur in unzureichender Form versicherbar. Deswegen wird für solche Risiken im Allgemeinen ein staatlich oder privatwirtschaftlich organisierter Versicherungspool genutzt, wo alle derartigen Risiken einer Volkswirtschaft zusammengelegt werden. Häufig werden die Risiken dann unter Versicherungsnehmer (Eigenbehalt), Versicherer und Staat aufgeteilt. Neue Risiken wie Cyberattacken sind unter anderem deshalb schwer versicherbar, weil in diesen Bereichen noch wenige Schadendaten zur Verfügung stehen, um diese Risiken zuverlässig abzuschätzen. Auch hier besteht die Gefahr eines Kumulereignisses. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine Cyberattacke viele Systeme gleichzeitig lahmlegt.

Welche Rolle spielen die Rückversicherer bei neuen Risiken und bei Grossrisiken?

Eine ganz wichtige. Denn erst durch die Rückversicherung werden bestimmte nationale Grossrisiken versicherbar. Während national tätige Erstversicherer versuchen, ihre Risiken möglichst breit und regional zu streuen, braucht es für bestimmte Spitzenrisiken die Rückversicherer, um diese Risiken wiederrum global zu diversifizieren. So wäre zum Beispiel das Risiko eines Sturmschadens in Florida isoliert betrachtet kaum versicherbar, aber in einem Rückversicherungspool wird es dann mit Risiken in Asien und Europa gepoolt. Dadurch werden die erhofften Diversifikationseffekte erzielt.

«Ausschlüsse und Deckungsgrenzen müssen künftig klarer kommuniziert werden.» 

Welche Lehren und Konsequenzen werden die Versicherungen aus der Coronakrise ziehen?

Als erstes kann die Branche froh sein, dass sie deutlich weniger als andere Branchen von der Krise betroffen ist. Die einzelnen Gesellschaften sollten daher im Rahmen ihrer Möglichkeiten Hilfe anbieten, was übrigens viele der Schweizer Privatversicherer in den vergangenen Tagen schon getan haben. Dies zum Beispiel in ihrer Rolle als Immobilienbesitzer mit Mietzinsstundungen.

Birgt die aktuelle Situation auch Chancen für die Branche?

Die Versicherungen sind nun gefragt, gemeinsam mit dem Staat an Risikomanagementlösungen für die nächste Pandemie und andere Extremrisiken zu arbeiten. Insofern birgt die aktuelle Situation natürlich auch grosse Chancen für die Branche, ihre zentrale Funktion für die Schweizer Volkswirtschaft wahrzunehmen und diese auch zu kommunizieren.

Wenn sich Unternehmen jetzt entschliessen, sich künftig für solche Pandemien absichern zu wollen: Was raten Sie ihnen?

Dies ist für ein einzelnes Unternehmen im Moment nicht einfach zu beantworten. An erster Stelle braucht es nun einen breiten Dialog zwischen Wirtschaft und Politik, um die Frage zu klären, wie wir in Zukunft gesellschaftlich mit derartigen Risiken umgehen wollen. Es wäre zu schön, wenn Corona der einzige Lockdown unseres Lebens bleibt. Aber aus Sicht eines guten Risikomanagement sollten wir versuchen, die bestmöglichen Lehren aus dieser Krise zu ziehen und eine noch bessere Risikomanagement-Strategie für die nächste mögliche Pandemie vorzubereiten. Wenn diese diskutiert ist, können auch konkrete Schlussfolgerungen für einzelne Unternehmen abgeleitet werden.