«Die Lehrstellensituation wird noch länger angespannt bleiben»
Herrschte in der Vergangenheit in vielen Berufen ein Überangebot an Lehrstellen, dürfte sich diese Situation infolge der Coronakrise stark verändern: Professor Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, rechnet mit langfristigen Folgen für den Lehrstellenmarkt. Doch es gibt Gründe zur Zuversicht – und das nicht zuletzt in der Versicherungsbranche.
Interview: Daniel Schriber
Herr Wolter*, die Coronakrise trifft die Wirtschaft hart: Welche Folgen hat die Pandemie für den Lehrstellenmarkt?
Unternehmen bilden aus zwei Motiven Lernende aus: Entweder tun sie dies, weil sie genügend Arbeit haben, so dass sie die Lernenden als zusätzliche Arbeitskräfte einsetzen können. Oder sie investieren in die Lernenden, weil sie die jungen Berufsleute langfristig als Fachkräfte einplanen. Wenn nun jedoch weniger Arbeit da ist, generiert der Lernende keinen Mehrwert mehr. Kosten verursacht er aber nach wie vor. Entsprechend werden sich viele Betriebe die Frage stellen, ob es sich noch lohnt, Lernende einzustellen. Zudem trübt die aktuelle Verunsicherung die Erwartungen und dämpft somit den prognostizierten zukünftigen Fachkräftebedarf.
Können Sie konkreter werden?
Wenn die Prognosen für Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit zutreffen, wird es bis ins Jahr 2025 deutlich weniger Lehrverträge geben als im Normalfall.
Professor Stefan Wolter, Leiter der Forschungsstelle für Bildungsökonomie der Universität Bern
Lässt sich die aktuelle Situation mit früheren Krisen vergleichen?
In der Finanzkrise 2009 sank das Bruttoinlandprodukt (BIP) in der Schweiz um 2,2 Prozent, bei der Wirtschaftskrise anfangs der 1990er-Jahre gerade mal um 0,9 Prozent. Nun deuten die Prognosen in diesem Jahr auf ein Minus von 6 Prozent hin. Ein Minus in dieser Höhe gab es zuletzt während der Erdölkrise 1975, als zirka 300'000 Arbeitsplätze verlorengingen. Die Coronakrise wird mit Sicherheit spürbare Auswirkungen auf den Lehrstellenmarkt haben. Denn klar ist: Wenn weniger produziert wird, braucht es auch weniger Lernende.
Wie lässt sich dieses Dilemma lösen?
Wir müssen trotz der negativen Vorzeichen alles dafür tun, dass möglichst viele der Jugendlichen eine Lehrstelle finden. Daneben sind auch andere Lösungsansätze zu prüfen, zum Beispiel in Form von Brücken- und Zwischenangeboten. Diese machen aber nur dann Sinn, wenn sich die Wirtschaft relativ schnell von der Krise erholt. Aktuell deutet vieles darauf hin, dass die Lehrstellensituation auch in den kommenden Jahren angespannt bleibt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Altersgruppe, die dieses Jahr auf den Lehrstellenmarkt drängt, vergleichsweise gross ist.
National- und Ständerat fordern vom Bundesrat Massnahmen, damit die Lehrbetriebe trotz der Krise weiterhin Lernende beschäftigen können. Wirtschaftsminister Guy Parmelin hat schon reagiert und eine «Task-Force Perspektive Berufslehre 2020» ins Leben gerufen. Reicht das?
Diese Reaktionen des Bundesrats und des Parlaments sind aus zweierlei Gründen positiv zu werten: Einerseits ist die Einsetzung dieser Task-Force Beleg dafür, dass das Problem erkannt wurde, andererseits ist es entscheidend, dass der Bund und die Kantone in dieser Sache eng zusammenarbeiten. Der Bund ist darauf angewiesen, regelmässig von den Kantonen über den Stand der Lehrstellensituation informiert zu werden. Manche Regionen werden kaum etwas von der Krise spüren, andere werden stark betroffen sein.
Warum diese regionalen Unterschiede?
Das liegt an den wirtschaftlichen Strukturen, die regional ganz unterschiedlich sind. Derweil zum Beispiel der Tourismus in manchen Regionen sehr wichtig ist, spielt er in anderen Gebieten nur eine kleine Rolle. Darüber hinaus gibt es auch kulturelle Differenzen: In ländlichen Gebieten der Deutschschweiz ist die Berufslehre stärker verankert als in besonders urbanen Gebieten. Das führt dazu, dass die Betriebe dort auch dann noch aktiv in der Berufsbildung bleiben, wenn sie kurzfristig Verluste machen sollten – dies allein schon aus der sozialen Verantwortung heraus.
«Unser Berufsbildungssystem wird auch diese Krise überstehen»
Müssen sich vor allem schwächere Schüler Sorgen machen?
So ist es. Selbst in Zeiten, in denen ein massives Überangebot an Lehrstellen herrschte, fanden nie alle Schulabgänger eine Stelle. Auch in der aktuellen Krise wird es so sein, dass das Problem immer weiter nach unten gereicht wird. Für manche Betriebe könnte die aktuelle Situation aber auch eine Entlastung darstellen.
Inwiefern?
Es gibt Branchen und Berufe – Metzger zum Beispiel – die seit Jahren kaum eine Bewerbung für ausgeschriebene Lehrstellen erhalten. Das könnte sich nun ändern.
Ganz nach dem Motto: Besser irgendeine Lehre als gar keine?
Es ist schön und gut, wenn Jugendliche Träume haben. Aufgrund des Überangebotes an Lehrstellen fanden in der Vergangenheit viele Jugendliche auch genau die Stelle, die sie sich wünschten. Nun jedoch ist das Angebot begrenzter. Umso wichtiger wird die Arbeit von Berufsberatern, Lehrern und Eltern.
Wie können Berufsberater, Lehrer und Eltern den Jugendlichen in dieser Situation helfen?
Das Spektrum der Berufe, die Jugendliche für sich selber in Betracht ziehen, ist relativ klein. Genau deshalb spielen Bezugspersonen jetzt eine wichtige Rolle. Sie können die Jugendlichen ermuntern, den Suchradius zu erweitern. Dank unseres Bildungssystems bietet fast jeder Beruf viele Weiterbildungsmöglichkeiten. Eine neue Analyse des Bundesamtes für Statistik zeigt, dass ein Viertel der Lernenden fünf Jahre nach dem Lehrabschluss in einem Beruf arbeiten, der höher qualifiziert ist als ihr ehemaliger Lehrberuf. Um auf Ihre vorherige Frage zurückzukommen, würde ich deshalb sagen: Ja, lieber einen Lehrabschluss machen, statt vergebens auf die Traumlehrstelle zu hoffen.
Sonst noch ein Rat für die Jugendlichen, die sich auf Lehrstellensuche befinden?
Neben dem beruflichen Spektrum soll vor allem auch der geographische Suchradius ausgedehnt werden. Natürlich ist es praktisch, im eigenen Dorf eine Lehre absolvieren zu können. Unsere Untersuchungen zeigen, dass sich die Lehrstellensuchenden hier aber einfach zu wenig flexibel zeigen. Da die Krise wie erwähnt regional unterschiedlich zuschlägt, sollte man auch in Betracht ziehen, eine Stunde zu seinem Lehrbetrieb zu pendeln.
«Die Versicherungsbranche wird die Krise viel besser überstehen als andere»
In der Versicherungsbranche werden vor allem KV-Lernende, Mediamatiker, Informatiker sowie Fachleute Kundendialog ausgebildet. Können Sie eine Aussage zur Situation in dieser Branche machen?
Die Versicherungsbranche wird die Krise viel besser als andere überstehen. Versicherungen werden schliesslich weiterhin abgeschlossen. Die Herausforderungen, die in Zukunft im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung auf die Branche zukommen, sind wesentlich grösser als Covid-19.
Verschiedene Versicherer bieten ihren Lehrabgängern eine Weiterbeschäftigung an. Können solche Massnahmen die aktuelle Situation entschärfen?
Das sind willkommene Massnahmen von Unternehmen, die sich diese leisten können. Dabei handelt es sich meist um grössere Betriebe, die bei der Auswahl ihrer Lernenden die strengsten Auswahlkriterien haben. Von der versprochenen Arbeitsplatzgarantie profitieren somit tendenziell jene Lernenden, die es auf dem Arbeitsmarkt auch sonst leichter hätten.
In der Schweiz stellt man gerade in urbanen Regionen eine zunehmende Akademisierung fest. Nimmt diese Entwicklung in Corona-Zeiten weiter zu?
Die Konkurrenz zwischen der Berufslehre und der gymnasialen Ausbildung ist Realität – und wird auch in Zukunft existieren. Ich gehe aber nicht davon aus, dass sich dieser Wettbewerb infolge der Coronakrise zuspitzen wird. Die Konjunktur hat in der Regel wenig Einfluss auf das Ansehen des Gymnasiums oder der Berufslehre. Und wenn, dann ist es so, dass die Krise den langen akademischen Weg auch unattraktiv machen kann.
Wieso das?
Die grosse Mehrheit der Studierenden arbeitet neben dem Studium. Die einen, weil sie müssen, die anderen, weil auch Studierende mal reisen oder sich neue Kleider kaufen wollen. Da aber klassische «Studentenjobs» in der Regel die ersten sind, die einer Krise zum Opfer fallen, wird das Verdienen während des Studiums zum Problem werden. Das macht ein langes Studium unattraktiver gegenüber einer Lehre.
Die Krise trifft unser Land hart. Gibt es trotzdem Gründe zur Zuversicht?
Durchaus. Auch wenn die Situation dramatisch wirkt und für betroffene Jugendliche sehr schwierig ist, gehen wir bei den unterschriebenen Lehrverträgen im schlimmsten Fall in diesem Jahr aktuell von einem Rückgang von 4 Prozent aus. Das bedeutet, dass 96 Prozent der Lehrstellen nach wie vor gesichert sind. Ich habe keinen Zweifel daran, dass unser Bildungssystem auch diese Krise überstehen wird.
* Professor Stefan Wolter ist Leiter der Forschungsstelle für Bildungsökonomie der Universität Bern und Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF). Er ist Mitautor einer neuen Studie zu den Folgen von Covid-19 auf den Lehrstellenmarkt. Die Studie wurde vom Leading House der Universitäten Bern und Zürich publiziert.