Fach­ta­gung Per­so­nen­scha­den 2024: Kom­mu­ni­ka­ti­on för­dert die er­folg­rei­che Re­inte­gra­ti­on

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Bei bestem Spätsommerwetter verbrachten rund 60 Spezialistinnen und Spezialisten aus der Versicherungsbranche an der Fachtagung Personenschaden des SVV zwei lehrreiche Tage am Thunersee. Belohnt wurden die Teilnehmenden mit einem BBQ mit Blick in die Berner Alpen, welches bis spätabends die Möglichkeit für angeregte Fachgespräche bot. 

Die beiden Gastgeber Manuel Nyffenegger, Präsident der Arbeitsgruppe Personenschaden und Reintegration des SVV und Patrizio Pelliccia, Fachverantwortlicher Schaden und Versicherungsmedizin beim SVV führten durch zwei ereignis- und fachlich anspruchsvolle Tage. Ein kurzer Überblick über die Vielfalt der in Thun diskutierten Themen.

Rechtsentwicklungen im Bereich der Personen- und Haftpflichtversicherungen

Tinnitus am Rockkonzert, Berufskrankheit beim Bodenlegen oder Zahnschaden nach Biss auf Stein: «Eine Reise durch zwei Jahre Bundesgerichtsentscheide ist, wie Wien in zwei Tagen zu besichtigen.» sagt Sarah Riesch angesichts der 7‘420 Fälle, welche das Bundesgericht im Jahr 2023 erledigt hat. Die beiden Senior Legal Counsels Sarah Riesch und Sandra Weber der Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG eröffneten den ersten Kurstag mit einer «Tour d’Horizon» durch zwanzig der wichtigsten und teilweise überraschenden Entscheide im Bereich der Personenversicherung.

Fachtagung Personenschaden 2024 in Thun - Sarah Riesch und Sandra Weber

Neuste Rechtsentwicklungen: Die beiden Senior Legal Counsels Sarah Riesch und Sandra Weber gaben einen Überblick.

Nach dem Lunch auf der Terrasse direkt am Thunersee startete Volker Pribnow, Rechtsanwalt in der Advokatur Baden, mit einem Blick in die Rechtsentwicklungen im Haftpflichtbereich den Tagungsnachmittag. Auch wenn im Haftpflichtbereich die grossen Würfe in der Rechtsprechung des Bundesgerichts in den letzten Jahren ausgeblieben sind, seien dennoch Tendenzen erkennbar. Anhand anschaulicher Beispiele erläuterte er den Unterschied zwischen milder und scharfer Kausalhaftung oder auch die immer früher beginnende relative Verjährungsfrist sowie das Regressprivileg des Arbeitgebers. 

Chancen und Risiken von Machine Learning und Künstlicher Intelligenz

«KI kann entlang der gesamten Wertschöpfungskette einer Versicherung eingesetzt werden.» erklärt Fabian Kostadinov, Senior Consultant der Acrea. Verständlich, dass dies bei vielen Mitarbeitenden ambivalente Reaktionen auslöst: Begeisterung über die neuen Möglichkeiten und die Angst vor Risiken liegen nahe beieinander. So bergen falsche Trainingsdaten, unsachgemässe Nutzung oder auch Attacken auf oder durch KI-Systeme erhebliche Risiken, während der Einsatz von KI-Systemen die Produktivität der Mitarbeitenden stark erhöhen kann. 

Fachtagung Personenschaden 2024 in Thun - Fabian Kostadinov

KI bei Versicherungen: Fabian Kostadinov sprach über Chancen und Risiken von Machine Learning und Künstlicher Intelligenz.

Abschliessend appellierte er an die Anwesenden, nicht den Anspruch zu haben, zu KI-Expertinnen zu werden, sich aber zumindest Grundkenntnisse anzueignen, um Entscheidungen künstlicher Intelligenz besser einordnen zu können. Nur so könnten Chancen genutzt und Risiken reduziert werden.   

Denn: Ein korrekt funktionierendes Machine Learning System wird zwingend Fehler haben, da es auf Wahrscheinlichkeit beruht. Solche Fehler, beispielsweise sogenannte «False Positives» (z.B. eine Anzeige eines Versicherungsbetrugs, wo keiner ist) oder «False Negatives» (z.B. Nicht-Anzeige von einem Karzinom, wo eigentlich eines wäre) können fatale Folgen haben.

Vom «Betty Bossi» für Schleudertraumata

Auch die Rechtsprechung sieht sich der Gefahr von Fehlentscheiden ausgesetzt. So sind bestimmte Beschwerdebilder oder Behinderungen vor Gericht schwierig zu beweisen. Welche Voraussetzungen müssen für ein bestimmtes Krankheitsbild erfüllt sein? «Mit der Zeit haben sich eine Art Betty Bossi-Rezepte für Krankheitsbilder etabliert, was die Gefahr von «confirmation bias» erhöht», erklärt Jörg Jeger, Facharzt für Rheumatologie in seinem Referat zur Entwicklung der Rechtsprechung im Bereich der psychischen Erkrankungen. Tatsächlich können durch Fehleinschätzungen Menschen mit relevanten Behinderungen zu Unrecht Versicherungsleistungen vorenthalten werden (falsch-negative Entscheide) oder umgekehrt Versicherungsleistungen ohne wirklichen Anspruch bezogen werden, was einem Missbrauch gleichkommt.

Fachtagung Personenschaden 2024 in Thun - Volker Pribnov

Gerichtsentscheide im Haftpflichtbereich: Volker Pribnow, Rechtsanwalt in der Advokatur Baden gab einen Einblick an der Fachtagung.

Eine der relevantesten Entwicklungen ist deshalb die Indikatoren-Rechtsprechung, welche seit 2015 im Sozialversicherungsrecht für alle psychiatrischen Erkrankungen angewandt wird. Sie stellt den Beweis einer Behinderung in den Hauptfokus, nicht mehr die Diagnose, wie dies vorher der Fall war. Die Diskussion im Plenum zeigte, dass damit ein riesiger Fortschritt in der Rechtsprechung erzielt werden konnte. 

«Die Indikatoren-Rechtsprechung ist ein grosser Fortschritt.»

Diese Weiterentwicklungen im Recht nahm auch Michael Liebrenz vom Forensisch-Psychiatrischen Dienst der Universität Bern auf. In seinem Beitrag beurteilte er die Qualität medizinischer Gutachten. Solche Beurteilungen des Gesundheitszustands einer Person legen die Grundlage für den Entscheid über Leistungsansprüche einer Versicherung. 

Fachtagung Personenschaden 2024 in Thun -Jörg Jeger

Indikatoren-Rechtsprechung: Sie stellt den Beweis einer Behinderung in den Hauptfokus, nicht mehr die Diagnose, wie dies vorher der Fall war erklärte Jörg Jeger, Facharzt für Rheumatologie.

Auch deshalb ist die Qualität dieser Gutachten in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus gerückt. Um diese noch weiter zu verbessern, hat die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB) sechs Qualitätsindikatoren entwickelt. 

Abschliessend fasste ein beeindruckender künstlicher Avatar, welcher in astreinem Deutsch und synchronisierten Lippen auf der Leinwand erschien, nochmals die wichtigsten Takeaways zusammen.
Manuel Nyffenegger entliess das Publikum daraufhin mit den Worten: «Der Thunersee hat 20.6 Grad, es gibt keine Ausreden, nicht baden zu gehen.» ins Abendprogramm. Der Networking-Apéro und das anschliessende BBQ im Park bei bestem Spätsommerwetter wurde von den Teilnehmenden zweifellos sehr geschätzt. 

Fachtagung Personenschaden 2024 in Thun -Apéro

Apéro und BBQ: Nach dem ersten Kurstag war das Abendprogramm im Park bei bestem Spätsommerwetter sehr geschätzt. 

Beispiele und Tools für Gesundheit und Prävention am Arbeitsplatz

Nachdem am ersten Tag die Definition von Krankheitsbildern sowie die Rechtsprechung im Zentrum standen, war der zweite Tag thematisch der Behandlung derselben, der beruflichen Reintegration von betroffenen Personen und der damit verbundenen Zusammenarbeit zwischen den involvierten Stellen gewidmet. Dies förderte das Bewusstsein über die Komplexität des Themas und die Wichtigkeit der Zusammenarbeit.

«Mittels Einsatz eines Case Managements bei Fällen psychischen Erkrankungen kann das Invaliditätsrisiko um 33% gesenkt werden.»

Den Start machte Madeleine von Arx, Geschäftsführerin von Compasso mit der Vorstellung der kürzlich durchgeführten Arbeitgeberstudie «Ressourcen- und Absenzenmanagement», die aufzeigt, dass die Arbeitgeber bei der Reintegration eine zentrale Rolle spielen. «Mittels Einsatz eines Case Managements bei Fällen psychischen Erkrankungen kann das Invaliditätsrisiko um 33% gesenkt werden.» gab von Arx zu bedenken. 

Um den Wiedereinstieg zu vereinfachen, entwickelte Compasso 2018 das ressourcenorientierte Eingliederungsprofil (REP), ein kostenloses digitales Instrument für Arbeitgeber, um den Wiedereinstieg schrittweise zu begleiten. Per Anfang 2025 wird das Instrument neu lanciert. 

Weitere Tools und Hilfsmittel für das betriebliche Gesundheitsmanagement stellte Klervi Moser von Gesundheitsförderung Schweiz vor. Die privatrechtliche Stiftung stellt für den Einstieg ins betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) verschiedene kostenlose Angebote zur Verfügung:

  • Leadership Kit und HR-Toolbox
  • Apprentice
  • Friendly Work Space Check

Durch das Label «Friendly Work Space» beweist ein Unternehmen sein systematisches Engagement für gute Arbeitsbedingungen und gesunde Mitarbeitende. 

Fachtagung Personenschaden 2024 in Thun -BBQ im Park

Im Gespräch: Der Austausch zwischen Expertinnen und Experten an der Fachtagung Personenschaden ist wertvoll.

Umfassende Strukturen und Massnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit ihrer Mitarbeitenden hätten sich bei der SBB seit vielen Jahren etabliert, sagte Karin Mahler, Leiterin Arbeitsmarktfähigkeit, Gesundheit und Soziales (HR-AGS), in ihrem Vortrag zum betrieblichen Gesundheitsmanagement bei den SBB. Mit einem Fokus auf Frühintervention und Prävention sollen psychische Belastungen rechtzeitig erkannt und erfolgreich behandelt werden, was eine hohe Reintegrationsquote von rund 80% und die Erhaltung der Leistungsfähigkeit sicherstellt.

Kurse «Psy­chi­sche Be­ein­träch­ti­gung und Ein­glie­de­rung»

Besonders anspruchsvoll im Rahmen der beruflichen Eingliederung ist der Umgang mit psychischen Beeinträchtigungen. Weiterbildungskurse des SVV unterstützen Versicherungsfachleute, Case Manager und Schadeninspektorinnen dabei, betroffene Personen erfolgreicher in die Arbeitswelt zu reintegrieren. Jedes Jahr bietet der SVV einen dreitägigen Weiterbildungskurs an. Der als Workshop aufgebaute Kurs ist für 2024 zwar bereits ausgebucht. Interessierte können sich jedoch gerne per Mail bei der Organisatorin Barbara Guggisberg melden, um informiert zu werden, sobald neue Kurse aufgeschaltet sind.

Effektive Kommunikation als Schlüssel zur erfolgreichen Reintegration

Dies ist wichtig, da die Zunahme psychischer Krankschreibungen Sorge bereitet, wie die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Maria Cerletti hervorhob. Behandlungen sollten nicht nur Symptome lindern, sondern auch die tieferen Ursachen verstehen, um Rückfälle zu vermeiden und die Rückkehr an den Arbeitsplatz zu unterstützen. 

Fachtagung Personenschaden 2024 in Thun -Publikum

Gespannt: Die nächste Fachtagung Personenschaden findet voraussichtlich im Jahr 2026 statt.

Die Kommunikation zwischen Versicherern und Psychiater seien dabei sehr wichtig, ergänzte ihr Kollege Jean-Daniel Sauvant. Vorurteile auf beiden Seiten erschweren den Austausch und behindern die Behandlung. Vertrauen und auch das Bewusstsein für diese Vorurteile seien aber notwendig, um eine offene und effektive Zusammenarbeit zu ermöglichen.

Louisa Riess, Senior Research Associate an der Universität St. Gallen, wies auf die Bedeutung von Führung, Inklusion und Megatrends für die Gesundheit und Prävention am Arbeitsplatz hin. Führungskräfte und inklusive Teams seien entscheidend für ein gesundes Arbeitsumfeld, während der digitale Wandel sowohl Chancen als auch Herausforderungen für die Mitarbeitenden mit sich bringe.

Im Abschlussreferat beleuchtete Thomas Pfiffner, Leiter der IV-Stelle Graubünden, die Zusammenarbeit zwischen Krankentaggeld- und Invalidenversicherung (IV) im beruflichen Eingliederungsprozess und betonte, dass eine partnerschaftliche Zusammenarbeit der Akteure den Erfolg erhöht. Zudem wurden die Neuerungen der IV-Reform 2022 und der Umgang mit Post-Covid-Betroffenen im Kontext der beruflichen Eingliederung vorgestellt.

Die nächste Fachtagung Personenschaden findet voraussichtlich im Jahr 2026 statt.