«Mit den Crashtests schliesst der SVV eine Lücke»
Seit mehr als zwanzig Jahren führt die Arbeitsgruppe Personenschaden und Reintegration des SVV Crashtests durch. Ziel dieser Crashtests ist es, Verletzungen der Halswirbelsäule und Schleudertraumata bei Kollisionen im niedrigen Geschwindigkeitsbereich besser zu verstehen. Dr. sc. techn. Markus H. Muser begleitet die Crashtests seit Beginn und erklärt, was sich in dieser Zeit verändert hat.
Der SVV führt als Branchenverband selbst Crashtests durch und stellt die Daten und Erkenntnisse öffentlich zur Verfügung. Weshalb greift man nicht auf bestehende Datenbanken wie die EU NCAP oder die US NCAP zu?
Markus Muser: Bei den meisten Crashtests – und auch bei EU NCAP und US NCAP – geht es ums Überleben bei schweren Kollisionen. Die Tests werden mit viel höheren Geschwindigkeiten durchgeführt als die SVV -Crashtests. Unser Untersuchungsgebiet ist viel konkreter: Wir wollen herausfinden, wie Kollisionen selbst im niedrigen Geschwindigkeitsbereich zu Verletzungen der Halswirbelsäule (HWS) oder sogenannten Schleudertraumata führen. Solche Tests gibt es nur sehr wenige und auch nicht systematisch. Der SVV kann diese Lücke schliessen.
Welche Erkenntnisse können Versicherer aus diesen Crashtests ziehen?
Markus Muser: Die Versicherer erlangen durch die Tests und die gewonnenen Daten mehr Sicherheit bei der Sachverhaltsabklärung. Das bedeutet konkret: Unfallversicherer oder Haftpflichtversicherer versuchen bei einer Unfallmeldung den Hergang zu rekonstruieren. Je mehr qualitativ gute Daten zur Verfügung stehen, desto genauer sind auch die Resultate. Bevor wir mit den Crashtests begonnen haben, gab es oft mehrere Gutachten, die sich auf unterschiedliche Datengrundlagen stützten. Das führte teilweise zu juristischen Auseinandersetzungen. Die einheitliche Datengrundlage schafft mehr Klarheit.
Die Crashtests werden seit zwanzig Jahren durchgeführt. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
Markus Muser: Verändert hat sich insbesondere die Qualität der Crashtests. Die Dokumentation ist umfassender, die Videokameras sind deutlich besser und man hat durch grössere Speicherkapazitäten viel mehr Möglichkeiten. Hätte ich Ihnen vor 20 Jahren gesagt, dass ich einen Terrabyte Datenspeicher brauche, hätten Sie mich wohl für verrückt erklärt. Heute ist das Realität. Zudem haben wir mittlerweile einen 3D-Scanner, der die Schäden als 3D-Modell darstellen kann. An der Durchführung selbst hat sich nicht viel geändert und auch unser Fokus auf die HWS-Thematik ist gleich geblieben.
Die Crashtests werden durchgeführt, um die Fahrzeugsteifigkeiten sowie die Belastung auf die Fahrzeuginsassen zu untersuchen. Welche Erkenntnisse wurden aus den jüngsten Crashtests gewonnen?
Markus Muser: In den Crashtests wird spürbar, dass die Fahrzeuge immer härter werden. Das hat verschiedene Ursachen, beispielsweise, dass die Fahrzeuge aus Kaskoversicherungsgründen so konstruiert werden, dass man mit 4 oder 5 km/h in einen Pfosten fahren kann, ohne dass grössere Schäden entstehen. Erstaunlich ist ebenfalls, dass die Airbags bereits bei sehr tiefen Geschwindigkeiten ausgelöst werden. Eine weitere spannende Entwicklung ist jene der Crashrekorder: Obwohl diese heute in vielen Autos standardmässig eingebaut sind, liefern sie uns bei tiefen Geschwindigkeiten noch nicht so viele Erkenntnisse, wie man sich das immer vorgestellt hat. Die Crashtests bleiben deshalb weiterhin notwendig.
Alternative zu sehr aufwändigen und teuren Computersimulationen: Crashtests des SVV
Nach welchen Kriterien werden die Fahrzeugmodelle ausgewählt?
Markus Muser: Einerseits testen wir neuere Modelle und Modelle, die häufig verkauft werden und deshalb naturgemäss auch häufiger in Unfälle verwickelt sind. Andererseits auch Modelle, bei denen man nicht genau weiss, wie sie sich im Crashfall verhalten, was wiederum die Berechnungen schwieriger gestaltet. Hinzu kommt die Kostenfrage: Wir müssen die Fahrzeuge für die Crashtests kaufen und machen eine Reparaturkalkulation, damit wir sie nachher weiterverkaufen können. Je teurer die Ersatzteile und Reparaturen, desto weniger attraktiv sind die jeweiligen Modelle für uns – wir können also keine Ferraris testen. Dieses Jahr haben wir allerdings zum ersten Mal einen Tesla dabei.
Stichwort Tesla: Wie wirkt sich die technische Entwicklung der Fahrzeuge auf das Testing aus? Welche Gefahren könnten spezifisch von Elektroautos ausgehen?
Markus Muser: Die einzige spezifische Gefahr besteht darin, dass die Batterien in Brand geraten könnten. Das passiert aber bei unseren tiefen Testgeschwindigkeiten nicht. Bei höheren Geschwindigkeiten ist dies aber genauso ein mögliches Szenario wie ein Benzintank, der explodieren kann. Konstruiert sind Elektroautos ähnlich wie herkömmliche Fahrzeuge, die Struktur unterscheidet sich nicht grundlegend. Viele Tests mit Elektroautos konnten wir aufgrund des Preises noch nicht durchführen, da die Reparatur sehr teuer ist. Elektroautos sind allerdings schwerer als vergleichbare Benzinautos, was eine stabilere Bauweise erfordert. Bisher bemerkt man diese Effekte kaum, aber wenn Elektroautos das Strassenbild dominieren und öfter in Unfälle verwickelt sind, wird sich das Unfallbild möglicherweise verändern.
«Elektroautos sind allerdings schwerer als vergleichbare Benzinautos, was eine stabilere Bauweise erfordert.»
Viele Autos haben integrierte Assistenzsysteme, zum Beispiel einen Notbremsassistenten. Werden die Crashtests durch die elektronischen Assistenzsysteme beeinflusst?Viele Autos haben integrierte Assistenzsysteme, zum Beispiel einen Notbremsassistenten. Werden die Crashtests durch die elektronischen Assistenzsysteme beeinflusst?
Markus Muser: Dank den Stabilitätskontrollsystemen gibt es weniger Unfälle, bei denen Autos ins Schleudern geraten. Bei den anderen Assistenzsystemen sind die Auswirkungen noch kaum spürbar. Auf die Crashtests hat es keinen Einfluss, da wir ja herausfinden wollen, was passiert, wenn es eben doch zu einem Unfall kommt.
Könnte man auf Crashtests verzichten und stattdessen auf Computersimulationen setzen?
Markus Muser: Die Simulation eines Autos ist sehr aufwändig und teuer, da es keine allgemeingültige Formel gibt, wie sich ein Auto verhält. Man muss es hierfür rechnerisch in sehr viele kleinste Teile zerlegen und für jedes einzelne Teilchen das Verhalten festlegen. Und dies für jedes Automodell. Das tun die Hersteller zwar, das ist aber wahnsinnig teuer und an diese Daten gelangt man nicht so leicht. Für uns sind Computersimulationen deshalb noch keine Option und kein veritabler Ersatz für die Crashtests. Auch für grössere Datenbanken sind computersimulierte Crashtests noch Zukunftsmusik.
«Die Simulation eines Autos ist sehr aufwändig und teuer, da es keine allgemeingültige Formel gibt, wie sich ein Auto verhält.»
Aktuell werden vor allem Autos getestet. Es sind jedoch auch immer mehr Velos und Elektrovelos auf den Strassen unterwegs. Führen Sie auch dazu Untersuchungen durch?
Markus Muser: Das Schleudertrauma, unser Untersuchungsgebiet, ist schon eine sehr autospezifische Verletzung. Aber natürlich verändern Velos oder auch E-Scooter das Strassenbild und damit auch das Unfall- und Verletzungsbild. In dieser Hinsicht sind es jedoch in erster Linie Fragen der Infrastruktur, die es zu beantworten gilt.
Ihre Prognose: Welche Herausforderungen warten in den kommenden Jahren auf die Versicherer?
Markus Muser: Ein grosses Thema sind sicher die Crashrekorder. Diese werden immer besser und können wichtige Erkenntnisse zum Unfallhergang liefern. Noch ungeklärt ist allerdings die Frage nach der Datenhoheit. Hier müssen die Versicherer weiterhin am Ball bleiben.
Zur Person:
Dr. sc. techn. Markus H. Muser ist Unfallforscher und verantwortlich für Biomechanische und Technische Gutachten (Strassenverkehr), Spezialgutachten, Gutachten im Sport und Produkthaftung sowie die Crashtest-Datenbank bei der Arbeitsgruppe für Unfallmechanik (AGU). Seit rund 20 Jahren begleitet er die Crashtests der Arbeitsgruppe Personenschaden und Reintegration des SVV.