«Fi­nan­zi­el­le Nach­hal­tig­keit wird zu we­nig dis­ku­tiert»

Interview

Wie kann die Versicherungsbranche zu mehr Nachhaltigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft beitragen? Das Whitepaper «Framework für Nachhaltigkeit aus Perspektive der Assekuranz» vom Institut für Versicherungswirtschaft an der Universität St.Gallen zeigt 50 Massnahmen entlang der Wertschöpfungskette auf. Der Studienautor und Professor Martin Eling stellt sich gemeinsam mit Urs Arbter, Direktor des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV, den wichtigsten Fragen.

Nachhaltigkeit ist ein vieldiskutiertes Thema, gerade in der Versicherungsbranche. Welche neuen Erkenntnisse kann hier das Whitepaper liefern? 

Martin Eling: Nachhaltigkeit hat in der Assekuranz einen hohen Stellenwert und fordert alle Marktteilnehmer heraus. Doch zu oft fokussiert die Diskussion ausschliesslich auf ESG (Environmental, Social, Governance). Das greift zu kurz. Deshalb haben wir beim Institut für Versicherungswirtschaft (I.VW-HSG) dieses klassische Framework um die Dimensionen Technologie und Ökonomie erweitert. Damit wollen wir einen Beitrag zum Diskurs über die Bedeutung der Nachhaltigkeit in der Privatversicherung leisten. Das Ziel ist, eine Diskussion auf verschiedenen Ebenen anzustossen – in der Politik und in der Wirtschaft, aber auch in der Gesellschaft – und zu sensibilisieren. 

Urs Arbter: Da das Versicherungsgeschäft naturgemäss langfristig ausgerichtet ist, gehört die für Nachhaltigkeit notwendige langfristige Denke zu unserer DNA. Wir verfolgen in diesem Thema einen breiten Ansatz. Das zeigen wir in unserem jährlich erscheinenden «Nachhaltigkeitsreport», der über den Fortschritt der Branche im Bereich der ökologischen, finanziellen und sozialen Nachhaltigkeit berichtet. Je tiefer wir in dieses Thema eintauchten, desto mehr stellten wir fest, dass die finanzielle Nachhaltigkeit viel zu wenig diskutiert wird. Doch gerade diesen Aspekt erachten wir als zentrale Voraussetzung, um in der Ökologie Fortschritte zu erzielen. 

Professor Martin Eling, HSG

Erweitert das herkömmliche Nachhaltigkeitsverständnis um die Dimensionen Technologie und Ökonomie: Prof. Dr. Martin Eling, Professor für Versicherungswirtschaft und Direktor des Instituts für Versicherungswirtschaft der Universität St.Gallen.

Im Whitepaper werden auch Kundenbedürfnisse angesprochen. Welche Rolle spielen diese in der Nachhaltigkeitsdebatte? 

Martin Eling: Es gibt empirische Studien, die Kundenbedürfnisse in Bezug auf die Nachhaltigkeit untersuchen. Dabei fand man heraus, dass Kundinnen und Kunden bereit sind, für Nachhaltigkeit einen gewissen Mehrpreis zu bezahlen. Kundinnen und Kunden schätzen es, wenn Produkte und Dienstleistungen einen positiven Beitrag zur Umwelt oder Gesellschaft leisten. Versicherer müssen unter anderem definieren, was ein nachhaltiges Produkt ist und wie man dessen Wert vermittelt. Kundinnen und Kunden erwarten zudem, dass sich Unternehmen glaubwürdig mit Nachhaltigkeit auseinandersetzen. 

Urs Arbter: Es besteht eine gewisse Differenz bei den Erwartungen der Kunden im Leben- und im Nichtlebengeschäft. Das Lebengeschäft ähnelt in Bezug auf die Nachhaltigkeit dem Geschäft der Banken. Es geht prinzipiell darum, das steigende Kundenbedürfnis an nachhaltige Anlagen sicherzustellen. Dies bedeutet primär, dass fondsgebundene Policen in nachhaltige Fonds investiert werden. Im Nichtlebengeschäft steht jedoch die Abdeckung des durch die Kundinnen und Kunden gewählten Risikos im Vordergrund – und das ist manchmal mehr oder weniger nachhaltig. Damit haben wir eine deutlich unterschiedliche Ausgangslage in den verschiedenen Geschäftsfeldern.

Urs Arbter

Plädiert für Rahmenbedingungen, unter denen innovative und nachhaltige Lösungen entstehen können: Urs Arbter, Direktor des Schweizerischen Versicherungsverbandes.

Das «Framework für Nachhaltigkeit» zählt vier Dimensionen: Ökologie, Soziales/Gesellschaft, Technologie und Ökonomie. Weshalb diese Erweiterung?

Martin Eling: Die Idee ist, die zwei weiteren Dimensionen «Technologie» und «Ökonomie» explizit zu betrachten und zu behandeln. Mit «Ökonomie» meinen wir die finanzpolitische Nachhaltigkeit. Diese geht in der Debatte oft unter.

Urs Arbter: Letztere muss gegeben sein. Denn wenn wir aufgrund zu hoher Staatsverschuldung oder hoher Steuern, die wir dem Staat abgeben müssen, nur beschränkte finanzielle Mittel zur freien Verfügung haben, dann bekommen wir auch die ökologischen Herausforderungen nicht in den Griff.

«Technologie war in der Geschichte immer der Hebel schlechthin, um Herausforderungen zu meistern.»

Urs Arbter

Und wie passt die «Technologie» dazu?

Martin Eling: Technologie wirkt sich potenziell auf alle anderen Dimensionen aus. Offenkundig ist das im Bereich der Ökologie, wo man mit Hilfe technologischer Innovation der Nachhaltigkeit zusätzlichen Auftrieb verleihen kann.

Urs Arbter: Technologie war in der Geschichte immer der Hebel schlechthin, um Herausforderungen zu meistern. Die Frage ist, wie man am schnellsten zu technologischen Erneuerungen kommt. Das geschieht in der Regel nicht durch Verbote, sondern durch Enabling – also indem Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Innovation entstehen kann. Wenn wir offen für technologische Entwicklungen sind und auch der finanzielle Anreiz besteht, neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, dann kommen wir als Wirtschaft und Gesellschaft vorwärts. 

Wie schätzen Sie die ökonomische Nachhaltigkeit in der Versicherungsindustrie ein? 

Martin Eling: Die ökonomische Nachhaltigkeit im Umgang mit Risiken würde ich als gegeben ansehen. Bei der Organisation von Sparprozessen und dem Stichwort Altersvorsorge sehe ich aktuell den grössten Handlungsbedarf. Es geht auch hier um Anreize. Meines Erachtens ist es eine Challenge, der Bevölkerung zu erklären, weshalb sie bei Niedrigzinsen Sparprozesse initiieren soll. Die Politik auf diese Baustelle aufmerksam zu machen, ist auch im Sinne der finanzpolitischen Nachhaltigkeit wichtig. 

Urs Arbter: Diesen Ball nehme ich gerne auf. Ich unterscheide zwischen zwei Ebenen der finanziellen Nachhaltigkeit. Die eine Ebene ist das Kollektiv – die gesamte Gesellschaft und der Staat. Es gibt gewisse Rahmenbedingungen wie ein angemessenes Schuldenmass, die gegeben sein müssen. Auf dieser Ebene ist insbesondere der Staat herausgefordert. Die andere Ebene ist die private Ebene – das einzelne Individuum. Für Letzteres können wir als Versicherungswirtschaft mit unserem Geschäftsmodell eine Absicherung für unvorhergesehene Ereignisse bieten. Damit stärken wir die finanzielle Unabhängigkeit von Privatpersonen wie Unternehmen. Das vergrössert den finanziellen Spielräum und stärkt letztlich auch die Innovation. Die beiden Ebenen sind deshalb miteinander verbunden: Die Versicherungswirtschaft trägt bedeutend zur finanziellen Nachhaltigkeit des Kollektivs bei.

«Die Messbarkeit sehe ich weder bei der ökologischen Nachhaltigkeit noch bei den anderen Dimensionen ausgereift vorhanden.»

Martin Eling

Wie können die Privatversicherer die Nachhaltigkeit noch stärker beeinflussen? 

Martin Eling: In unserem Whitepaper haben wir Massnahmen entlang der Wertschöpfungskette entwickelt. Damit können wir aufzeigen, in wie vielen Bereichen die Assekuranz in der Lage ist, einen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten. Für die finanzielle Nachhaltigkeit zählt beispielsweise der Einsatz für eine angemessene Regulierung dazu. Wir stossen aber immer wieder an ein Problem: Die Messbarkeit. Wir führen zwar eine sehr fundierte Nachhaltigkeitsdebatte und mittels Nachhaltigkeitsreports wird transparent über den Fortschritt berichtet. Aber die Messbarkeit sehe ich weder bei der ökologischen Nachhaltigkeit noch bei den anderen Dimensionen ausgereift vorhanden. 

Was können die Versicherer sonst noch tun?

Martin Eling: Die Assekuranz hat in ihrer Rolle als Risikoträger ein extrem grosses Knowhow. Es ist daher sehr wertvoll und glaubwürdig, wenn grosse Versicherer den Finger in die Wunde legen und die Politik auf Themen wie die Auswirkungen des Klimawandels aufmerksam machen. 

Urs Arbter: Die Versicherungswirtschaft hat ein natürliches Interesse daran, Risiken zu einem adäquaten Preis zu versichern. Im Nichtlebengeschäft setzen wir uns mit Klimaveränderungen auseinander und eignen uns Wissen an, welches ins Risikomanagement und ins Underwriting einfliesst. Dieses Wissen können wir in der Tat auch der Politik zur Verfügung stellen. Im Underwriting steht für die Versicherer im Vordergrund: Welche Risiken werden versichert und welche nicht? Welche werden systematisch ausgeschlossen, weil diese nicht versicherbar sind oder aus ethischen Gründen die Bereitschaft zu deren Übernahme nicht vorhanden ist? 

«Ich glaube nicht, dass wir beispielsweise einfach damit aufhören sollten, Autoversicherungen für Benzinautos anzubieten.»

Urs Arbter

Vertiefen wir die ökologische Dimension: In welchem Bereich der Wertschöpfungskette sehen Sie für Versicherer das grösste Potenzial, ihren Beitrag zur Erreichung der Pariser Klimaziele zu leisten?

Martin Eling: Bei den Kapitalanlagen ist meines Erachtens schon viel passiert. Wirklich spannend ist das Versicherungsgeschäft, denn da gibt es unterschiedliche Ansätze. Der Risikoansatz geht dahin, dass bestimmte Risiken vermieden werden, indem sie nicht gezeichnet werden. Ich finde jedoch den Impactansatz mindestens ebenso interessant und wertvoll, denn da wird im Dialog mit den Kunden versucht, eine Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit zu erreichen. Nehmen wir als Beispiel die Zementindustrie in der Schweiz. Es ist nicht realistisch, dass ein Zementunternehmen nicht mehr versichert wird. Die Versicherungsindustrie kann jedoch begleiten und zum Beispiel über einen CO2-Absenkungspfad eine nachhaltige Veränderung bewirken. Bei der Betriebsökologie sind die Möglichkeiten relativ begrenzt. Die Emissionen der Branche sind gering und selbst da wurde bereits viel gemacht. 

Urs Arbter: Die Frage ist, ob es unsere Rolle ist, die Gesellschaft umzuerziehen. Ich glaube nicht, dass wir beispielsweise einfach damit aufhören sollten, Autoversicherungen für Benzinautos anzubieten. Aber wir können Transparenz schaffen und Auswirkungen aufzeigen. Wo relevant müssen wir im Pricing darlegen, dass Nachhaltigkeitsrisiken preistreibend sind, und alternative Technologien zur Risikominderung vermitteln. Die Frage ist dabei immer, wie man externe Kosten mit einem Preisschild versehen kann. Die Wissenschaft zeigt, dass die Wirtschaft Externalitäten zu wenig miteinbezieht. Wie stark dies geschehen soll, kann die Assekuranz allein jedoch nicht beantworten.

Zum Abschluss: Welchen Stellenwert hat Nachhaltigkeit in Ihrem Leben?

Martin Eling: Der Umgang mit Ressourcen ist anders ist als noch vor fünf Jahren. Ein Beispiel: Wir sind mit unserem Diplomprogramm einmal im Jahr für eine Woche nach Singapur geflogen. Diese Woche war immer sehr lehrreich und trug massgeblich zum Erfolg des Seminars bei. So eine Reise mit 25 Personen im Rahmen eines Seminarprogramms ist heute unvorstellbar. Das ist etwas, was sich bei mir im Privat- wie im Geschäftsleben sehr stark spiegelt. Ich treffe solche Entscheidungen heute bewusster. 

Urs Arbter: Ich bin gerne in den Bergen und sehe dort, welche Veränderungen der Klimawandel hervorruft. Ich war diesen Sommer auf einer Hochgebirgstour – da war der Gletscher, der auf der Karte noch gross eingezeichnet war, quasi nicht mehr vorhanden. Wir stehen als Gesellschaft in der Verantwortung, unserer Umwelt Sorge zu tragen und die Herausforderungen gemeinsam anzupacken. Dabei müssen wir aber zwingend bei unseren Erfolgsprinzipien bleiben: Die Herausforderungen sind marktwirtschaftlich und nicht durch Verbote anzugehen. 

Nachhaltigkeit als strategische Stossrichtung für Schweizer Versicherer

Das Verankern von Nachhaltigkeit ist für den SVV ein zentrales Element seiner Strategie 2020–2024. Um dieses Engagement und die Fortschritte transparenter darlegen zu können, publizierte er in diesem Jahr seinen dritten Nachhaltigkeitsreport. Dabei geht das Engagement der Privatversicherer über die ökologische Nachhaltigkeit hinaus und beinhaltet genauso Anstrengungen im Bereich finanzielle und gesellschaftliche Nachhaltigkeit wie etwa nachhaltige Kapitalanlagen, eine generationengerechte Altersvorsorge oder die Gestaltung der Arbeitswelt von morgen. Die Versicherer unterstützen die Bestrebungen des Bundes, bis im Jahr 2050 das Netto-Null-Ziel zu erreichen, und begrüssen freiwillige Initiativen wie den PACTA-Klimaverträglichkeitstest. Um den Weg in Richtung Nachhaltigkeit konsequent weiter zu beschreiten, ist der SVV auch als Supporter der Net Zero Asset Owner Alliance beigetreten.