Sind wir bereit für Disease X?
Wie können wir uns auf die nächste Pandemie vorbereiten? Eine aktuelle Studie der Universität St.Gallen untersucht, welche Lehren wir aus der Coronapandemie ziehen können, und wirft einen neuen Blick auf die Pandemieversicherung. SVV-Chefökonom Jan Schüpbach ordnet ein.
«Disease X» – was wie ein Thriller klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Unter diesem Namen erarbeitet die Weltgesundheitsorganisation WHO derzeit Strategien für den Umgang mit der nächsten Pandemie. Denn die Frage ist nicht, ob eine neue Pandemie kommt – sondern wie man sich darauf vorbereitet.
Das Institut für Versicherungswirtschaft an der Universität St.Gallen hat sich standesgemäss aus einer wirtschaftlichen Perspektive mit dem Thema befasst. Bei der letzten Pandemie führten Corona-bedingte Betriebsunterbrüche trotz insgesamt 45 staatlicher Massnahmen wie liquiditätssichernden Notkrediten zu dauerhaften und erheblichen Umsatzeinbussen bei Schweizer Firmen.
Vielversprechende Versicherungslösung
Eine Pandemieversicherung könnte solche wirtschaftlichen Folgen einer Pandemie abfedern. So zeigen die Modellsimulationen der Universität St.Gallen, dass eine Versicherungslösung das Risiko von Umsatzeinbussen wirksam und nachhaltig reduzieren könnte. Dies ist das aus Sicht der Versicherungswirtschaft wichtigste Ergebnis dieser Studie, die der Schweizerische Versicherungsverband SVV zusammen mit der Zurich Versicherung in Auftrag gegeben hat.
Auch nennt die Studie eine ganze Reihe weiterer positiver Nebeneffekte der Versicherungslösung: So könnte der Spielraum für opportunistisches Verhalten aufgrund ökonomischer Fehlanreize («Moral Hazard») sowie Kapitalreallokation inmitten der Krise verringert werden, wenn auf umfassende, nachträgliche staatliche Interventionen verzichtet werden könnte. Auch die inflationstreibende Wirkung einer stark expansiven Fiskalpolitik bliebe im erlebten Ausmass aus. Nicht zuletzt fördert ein geordnetes Vorgehen im Rahmen einer Versicherungslösung das Ergreifen sinnvoller Präventionsmassnahmen.
Eine Pflichtversicherung käme die Gesellschaft daher wohl günstiger zu tragen als staatliche Ad-hoc-Massnahmen. Denn auch wenn die Unternehmen mit einer verpflichtenden Versicherung in Vorleistung gehen müssen, die sie vielleicht nie in Anspruch nehmen werden – zahlen müssten sie auch ohne Versicherung. Sei es über höhere Steuern oder einen steigenden Inflationsdruck: Die Rechnung muss von der Allgemeinheit geschultert werden. Eine planbare Belastung ist dabei mit einiger Wahrscheinlichkeit die günstigere und effizientere Variante.
Ganz ohne den Staat geht es nicht
Neuralgischer Punkt bleibt stets die tatsächliche Versicherbarkeit solcher Szenarien. Vor allem die Diversifizierbarkeit einer Pandemie ist schwierig – das heisst, lokale Schäden können durch weltweite Prämien gedeckt oder sektorspezifische Schäden können durch Prämien aus anderen Sektoren aufgefangen werden. Dies ist bei einer weltumspannenden Pandemie nicht der Fall.
Die HSG-Studie zeigt hier Auswege auf. So ist eine Diversifikation nicht nur zwischen Regionen oder Branchen, sondern auch über die Zeit möglich – zum Beispiel durch eine Vorfinanzierung mittels eines Kapitalpools. Dieser könnte auch staatlich unterstützt werden, was eine Risikoteilung ermöglicht.
Nicht ohne Grund wurden daher noch während der Coronapandemie von Bundesbehörden und Vertretern der Schweizer Versicherungswirtschaft Optionen für eine Private Public Partnership erarbeitet. Diese hätten es ermöglicht, Pandemien – und andere Toprisiken – versicherbar zu machen.
Im März 2021 hat der Bundesrat jedoch entschieden, das Konzept einer Pandemieversicherung vorerst nicht weiterzuverfolgen und stattdessen weiterhin auf nachträgliche Ad-hoc-Massnahmen zu setzen. Also Kurzarbeitsgelder, Härtefallhilfe und Erwerbsersatzzahlungen. In der nächsten Pandemie kämen so wieder massive Kosten auf den Staat und letztlich die Steuerzahlenden und die nachkommenden Generationen zu.
Nicht den Faden verlieren
«Passiert ja eh so schnell nicht wieder», mögen einige entgegnen. Ja, wir wollen es hoffen! Aber eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit ist kein Grund gegen eine Versicherung. Ganz im Gegenteil: Sie macht es erst möglich, auch ein grosses Schadenausmass zu günstigen Konditionen zu versichern. So werden auch vergleichsweise extreme Risiken plan- und händelbar. Das gilt auch für Erdbeben und Cyberrisiken.
Auch wenn eine Pandemie wieder weit weg und unwahrscheinlich erscheint: Die Studie der Universität St.Gallen ist ein guter Reminder, am Thema dranzubleiben und an der Erhöhung der Versicherbarkeit einer Pandemie zu arbeiten. Für mehr Planungssicherheit für Staat und Wirtschaft, zur Stärkung der gesellschaftlichen Eigenverantwortung und zur Vorbereitung auf die nächste Pandemie. «Disease X» ist nur eine Frage der Zeit. Nutzen wir sie.
Dieser Kommentar erschien am 19. Juli 2024 auf handelszeitung.ch/insurance.