«Rea­le Ri­si­ken wer­den von vie­len un­ter­schätzt»

Interview

Obwohl Begriffe wie «Pandemie» und «Cyber» in aller Munde sind, ist das Risikobewusstsein der Bevölkerung kaum gestiegen. René Harlacher, Chief Underwriting Officer bei Zurich Schweiz und Mitglied des SVV-Ausschusses Nichtleben, erläutert, welche Herausforderungen dies mit sich bringt – und warum gerade Grossereignisse nur gemeinsam zu bewältigen sind. 

Herr Harlacher, die Pandemie, der Ukrainekrieg, Naturkatastrophen: In den vergangenen Jahren blieb uns nichts erspart. Was bedeutet das für die Versicherungswirtschaft?  

Solche Ereignisse haben allesamt grossen Einfluss auf unsere Gesellschaft und natürlich auch auf die Branche. Zudem machen sie deutlich, wo die Schwachstellen bezüglich der Versicherbarkeit von Grossereignissen liegen. Es gehört zu unseren Aufgaben, hier Lösungen zu erarbeiten und aufzuzeigen. 

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Und trotzdem haben wir heute – um ein aktuelles Beispiel zu nennen – noch keine Pandemieversicherung. 

Die Versicherungsbranche hat einen Vorschlag erarbeitet, wie eine flächendeckende Pandemieversicherung aussehen könnte. Leider fand die Lösung keine Unterstützung, weshalb das Projekt vom Bund auf Eis gelegt wurde. An unserem Grundauftrag ändert dies jedoch nichts: Wir müssen der Politik und der Gesellschaft aufzeigen, wo Risiken existieren – und wie wir diesen im Ereignisfall begegnen können. 

Kaum war die Pandemie gefühlt überstanden, folgte der Ukrainekrieg. Welche Folgen hatte dieser auf die Branche?  

Sehr weitreichende und vielschichtige. So hat die Zurich zum Beispiel im Mai 2022 ihre Tochterunternehmung in Russland verkauft und sich aus diesem Markt zurückgezogen. Natürlich wirkt sich der Krieg auch auf das Tagesgeschäft aus. 

Infolge der internationalen Sanktionsvorschriften waren zum Beispiel auf einen Schlag bestehende Verträge mit russischen Partnern nicht mehr gültig. Und dann hatte der Krieg natürlich auch grossen Einfluss auf die Realwirtschaft und die Finanzmärkte, was bis heute nachhallt. 

Wie gehen Sie mit all diesen Krisen um? 

Ich bin seit bald 20 Jahren in der Branche, aber eine solche Häufigkeit von Krisen und Katastrophen habe ich persönlich noch nie erlebt. Für die Versicherungswirtschaft, die naturgemäss auch stark auf langfristige Zeiträume fokussiert ist, bringt diese Kurzfristigkeit grosse Herausforderungen mit sich. 

«Ich bin seit bald 20 Jahren in der Branche, aber eine solche Häufigkeit von Krisen und Katastrophen habe ich persönlich noch nie erlebt.»

Tragen solche Ereignisse dafür zu einem erhöhten Risikobewusstsein der Bevölkerung bei? 

Das könnte man annehmen. Aus unserer Erfahrung ist jedoch eher das Gegenteil der Fall. Die Vielzahl der Ereignisse hat zu Überforderung und wohl auch zu einer gewissen Resignation geführt. 

Können Sie ein Beispiel dafür nennen? 

Als im Frühjahr in Syrien und der Türkei die Erde bebte, war die Betroffenheit natürlich auch hierzulande gross. Gleichzeitig hat dieses schreckliche Ereignis aber nicht das ausgelöst, was ich erwartet hätte. So gab es zum Beispiel kaum eine öffentliche Diskussion darüber, inwiefern ein solches Ereignis auch die Schweiz treffen könnte – und wie wir in diesem Fall geschützt wären. Obwohl wir seit langem wissen, dass die Gefahr eines Erdbebens real ist, werden Risiken wie dieses leider von vielen unterschätzt. 

Immerhin diskutiert das Parlament derzeit über das Modell der Eventualverpflichtung. Diese sieht vor, dass sich Hauseigentümer im Falle eines schweren Erdbebens finanziell am Wiederaufbau beteiligen. Wäre das ein gangbarer Weg?  

Die Branche steht diesem halbherzigen Vorschlag ablehnend gegenüber. Aus unserer Sicht suggeriert die sogenannte Eventualverpflichtung eine falsche Sicherheit: Sie bietet keinen umfassenden Schutz, da die Fahrhabe nicht eingeschlossen ist. Zudem entspricht der Vorschlag eher einer nachträglichen Steuer als einer präventiven Versicherung. 

Wie sehen die Forderungen der Branche stattdessen aus?  

Erdbeben sind ein versicherbares Risiko: Hauseigentümerinnen und Hauseigentümer haben heute die Möglichkeit, eine private Erdbebenversicherung abzuschliessen. Das tun jedoch nur rund zehn Prozent aller Eigentümerinnen und Eigentümer. Mit anderen Worten: Im Ereignisfall stünden wir – ähnlich wie bei der Pandemie – vor riesigen Herausforderungen. Aus unserer Sicht braucht es eine obligatorische Lösung, ähnlich dem Elementarschadenpool. 

 

Wie sieht es im Cyberbereich aus? 

Cyberrisiken sind extrem dynamisch. Zudem wissen wir aufgrund mangelnder Erfahrung nicht mit Sicherheit, welche Folgen ein Grossereignis in diesem Bereich hätte. Im Gegensatz zu anderen Risiken verfügen die Branche bei den Cyberrisiken erst über sehr wenige Daten, weil es das Risiko historisch noch nicht lange gibt. Klar ist aber: Ähnlich wie bei Pandemien gibt es auch im Cyberbereich Risiken, die nicht versicherbar sind. Ein solcher Angriff könnte Schadensausmasse annehmen, die wir als Versicherung allein nicht decken könnten. 

«Auch im Cyberbereich braucht es ein starkes Zusammenspiel zwischen Bund, Versicherungswirtschaft und Gesellschaft.»

Was also ist zu tun? 

Auch im Cyberbereich braucht es ein starkes Zusammenspiel zwischen Bund, Versicherungswirtschaft und Gesellschaft. Letztlich muss jeder und jede Einzelne einen Beitrag leisten. 

 

Die Digitalisierung ermöglicht es den Versicherern, immer bessere Produkte zu entwickeln. Was bedeutet das im Umgang mit Toprisiken? 

Die Digitalisierung und damit besonders die Verfügbarkeit von Daten hat einen grossen Einfluss auf unser Geschäft. Gerade bei Naturereignissen wie zum Beispiel Überschwemmungen verfügen wir über grosse Datensätze, die uns helfen, Präventionsmassnahmen umzusetzen. 

 

Wagen wir zum Schluss noch einen Blick in die Zukunft: Welche Rahmenbedingungen wünschen Sie sich für das Jahr 2040 in Bezug auf den Umgang mit Grossrisiken?  

Verhindern können wir Grossereignisse wie Pandemien, Erdbeben oder Cyberattacken auch in Zukunft nicht. Aber wir können dafür schauen, dass wir so gut wie möglich darauf vorbereitet sind. Dafür braucht es jedoch alle Akteure. Im aktuellen politischen Klima sind Gemeinschaftswerke leider kaum durchzubringen. Ich wünschte mir deshalb, dass der Solidaritätsgedanke in der Politik und der Bevölkerung wieder stärker funktionieren würde.