«Haupttreiber für steigende Schäden aus Naturgefahren ist unser wachsender Wohlstand»
Im Interview sprechen David Bresch, Professor für Wetter- und Klimarisiken an der ETH Zürich und ehemaliger Leiter Nachhaltigkeit bei Swiss Re, und Eduard Held, Geschäftsführer Elementarschadenpool und Experte für Naturgefahren beim SVV, über Naturgefahren, Extremwetterereignisse und Klimawandel.
Sie zeigen auf, weshalb der Klimawandel allein nicht für zunehmende Schäden verantwortlich gemacht werden kann, wie sich Schadenzahlen seriös einordnen lassen und warum Naturgefahren nicht unversicherbar werden. Zudem ordnen sie ein, weshalb die Eindämmung des Klimawandels langfristiges Denken und Handeln erfordert.
Was war 2023 für ein Schadenjahr?
Eduard Held: Sowohl in der Schweiz wie auch weltweit dominierten 2023 die sogenannten konvektiven Ereignisse. Das sind Sommerstürme, oft in Kombination mit heftigem Hagel, Gewittern und starken Böen, wie sie sich in der Schweiz in La Chaux-de-Fonds Ende Juli und in der Region Locarno Ende August 2023 ereignet haben. Hagel ist die zweitteuerste Naturgefahr in der Schweiz, und das Hagelereignis im Tessin verursachte für die Privatassekuranz den höchsten versicherten Schaden im Jahr 2023.
Im Gespräch: David Bresch, Professor für Wetter- und Klimarisiken an der ETH Zürich und ehemaliger Leiter Nachhaltigkeit bei Swiss Re (links), und Eduard Held, Geschäftsführer Elementarschadenpool und Experte für Naturgefahren beim SVV.
In der öffentlichen Wahrnehmung nehmen die Schäden, welche durch Naturereignisse verursacht werden, zu. Stimmt das?
Eduard Held: Versicherte Schäden aus Naturgefahren nehmen sowohl in der Schweiz wie auch weltweit zu. Der Haupttreiber ist die sozio-ökonomische Entwicklung – anders gesagt: Unser zunehmender Wohlstand. Dazu gehört der Wertezuwachs, die zunehmende Versicherungsdurchdringung und die immer stärker vernetzte und auch verletzlichere Infrastruktur. Auch die stark gestiegene Schadenempfindlichkeit von Bauten und Technologien trägt dazu bei: Smart Homes oder Dächer mit Solarpanels sind schadenanfälliger geworden, und die durchschnittlichen Hagelschäden an Motofahrzeugen haben sich über die letzten Jahrzehnte vervielfacht. Auch die Konsumentinnen und Versicherungsnehmer sind anspruchsvoller geworden und melden Schäden häufiger als früher. All diese Faktoren treiben die versicherten Schadenzahlen in die Höhe. Fachkräftemangel und die Inflation tragen ebenfalls ihren Teil dazu bei.
«Versicherte Schäden sind ein denkbar schlechtes Mass, um mögliche Auswirkungen des Klimawandels zu quantifizieren.»
Der Haupttreiber für grössere Schäden ist also nicht der Klimawandel.
Eduard Held: Versicherte Schäden sind ein denkbar schlechtes Mass, um mögliche Auswirkungen des Klimawandels zu quantifizieren. Korrigiert man die Schadendaten aufgrund der oben erwähnten Einflussfaktoren, lässt sich kein Trend von zunehmenden oder stärkeren Naturereignissen beobachten – weder in der Schweiz noch weltweit.
David Bresch: Man muss die ökonomischen Schäden als Kennzahl nehmen. Dazu zählen Gebäudeschäden, Menschenleben, Schäden durch Betriebsunterbruch. Auch diese müssen korrigiert werden. Dasselbe macht man bei Risikomodellen zu Naturgefahren: Man nimmt die relativen Schäden, also die Schäden in Bezug auf den Gebäudewert, die Gebäudestruktur. Die Basis ist der Bestand, dann legt man das Ereignis darüber und rechnet.
«Extremwetterereignisse wie mehr Niederschläge oder intensivere Stürme nehmen zu.»
Doch Extremwetterereignisse nehmen zu.
David Bresch: Es gibt Veränderungen bei Wetterereignissen, wie mehr Niederschläge und häufigere Stürme. Hier muss man die einzelnen Gefahren differenziert betrachten: Tropische Stürme wie Zyklone nehmen in vielen Weltregionen in der Frequenz tendenziell ab, in der Intensität jedoch zu. Doch wenn sie auftreten, sind sie also schlimmer – das führt zu anderen Schadenbildern.
Eduard Held: Diese Differenzierung fehlt in den Medien. Das Reporting ist tendenziell einseitig. Ein Beispiel: Der Januar und der Februar 2023 waren in der Schweiz, vor allem auf der Alpensüdseite, äusserst niederschlagsarm – wir haben die Schlagzeilen von drohender Trockenheit gelesen. Im März und April 2023 hat es dann überdurchschnittlich geregnet – niemand hat etwas dazu geschrieben. Geschweige denn über die Tatsache, dass sich die Niederschlagssummen über das ganze Jahr 2023 um das langjährige Mittel bewegt haben.
Zahlen einordnen: «Normalisierte Schadendaten zeigen, dass sich weder in der Schweiz noch weltweit ein Trend von zunehmenden oder stärkeren Naturereignissen beobachten lässt», sagt Eduard Held (rechts).
In der Diskussion um den Klimawandel gibt es das Narrativ, dass Naturgefahren unversicherbar werden könnten. Was sagen Sie dazu?
Eduard Held: Dieses Narrativ ist aus meiner Sicht schlicht falsch. Bei Naturgefahren – dazu gehört auch das Toprisiko Erdbeben – sind alle Kriterien der Versicherbarkeit gegeben: Zufälligkeit, Unabhängigkeit, Eindeutigkeit, Kenntnis der Schadenverteilung, Berechenbarkeit der Prämie sowie vorhandene Kapazitäten der privaten Versicherungsindustrie. Das Risiko mag sich ändern – das bedeutet einzig, dass die Prämien entsprechend angepasst werden müssen, Stichwort risikogerechte Prämien.
David Bresch: Wenn wir gewillt sind, gewisse Risiken gemeinsam zu tragen, können wir das über das Instrument der Versicherung tun. Bei der Diskussion um die Versicherbarkeit geht es eigentlich um die Frage: Wie wollen wir zusammenleben? Das betrifft die Raumplanung, die Prävention, die Vorschriften für Bau und Betrieb etc. In der Schweiz gibt es zum Glück einen starken gesellschaftlichen und politischen Willen, gewisse Risiken als Gemeinschaft solidarisch zu tragen.
«Bei der Diskussion um die Versicherbarkeit geht es um die Frage: Wie wollen wir zusammenleben?»
An einem Strick: «In der Schweiz werden gewisse Risiken als Gemeinschaft solidarisch getragen», führt David Bresch (links) aus.
So entstand auch die Elementarschadenversicherung.
Eduard Held: Nach dem dramatischen Lawinenwinter von 1950/51 wurde diese in der heutigen Form eingeführt. Jede private Feuerversicherung für Gebäude und Fahrhabe muss automatisch die Elementarschadenversicherung einschliessen, d. h. die Deckung aller wesentlichen Naturgefahren ausser Erdbeben. Die Elementarschadenversicherung basiert auf einer schweizweiten Solidarität und ermöglicht allen Hauseigentümerinnen und -eigentümern, sich zu bezahlbaren Prämien gegen Elementarereignisse abzusichern.
Welche Rolle spielt die Prävention bei Naturgefahren?
David Bresch: Bei Naturgefahren spielt die Prävention eine wichtige Rolle. Die UNO-Initiative «Early Warnings for All» zielt in erster Linie auf den Schutz von Menschenleben und teilweise auf der Reduktion der Schäden – ein grosser und wichtiger Hebel. In der Folge werden auch die Schäden an Infrastruktur und Werten sinken.
Eduard Held: In der Schweiz geschieht Prävention in erster Linie am Objekt oder auf der Ebene der Infrastruktur. Man denke beispielsweise an die Hochwasserschutzmassnahmen für die Sihl, mit dem Schwemmholzrechen und Entlastungsstollen bei Langnau am Albis, die bei Hochwasser weiträumige Überflutungen in und um Zürich verhindern. Hier agiert die Schweiz vorbildlich, was wir nicht zuletzt unserer föderalen politischen Struktur und dem gelebten Prinzip der Subsidiarität zu verdanken haben, bei dem sich alle betroffenen Akteure an einen Tisch setzen und Lösungen finden.
«Würden wir mit dem Klimaschutz zuwarten, bis Temperaturveränderungen in den Messungen sichtbar werden, wären wir 50 Jahre zu spät.»
Statistiken analysieren die Vergangenheit. Was lässt sich aus den Zahlen zur globalen Erderwärmung für die Zukunft schliessen?
David Bresch: Ohne Modelle kann man keine Schlussfolgerungen ziehen. Über einen längeren Zeitraum lassen sich statistische Analysen durchführen, doch die zugrunde liegenden Prozesse können so komplex sein, dass es sehr lange dauert, bis sich Veränderungen, speziell in den Extremen, in den Beobachtungen niederschlagen. Die ersten Klimamodelle entstanden in den 1970er-Jahren. Ein Klimamodell bildet die relevanten Prozesse ab und dient primäre dazu, «Was-wäre-wenn»-Fragen zu beantworten. Wenn man die Temperatur erhöht, verändert man die Dynamik eines komplexen Systems. Wissen wir, dass CO2 wie ein Thermostat für die Erdatmosphäre wirkt, können wir dies in ein Modell integrieren. Wenn ich mehr CO2 in die Atmosphäre entlasse, so steigt die Temperatur. Hauptverantwortlich dafür ist die Nutzung fossiler Energieträger durch den Menschen. Würden wir zuwarten, bis die Zunahme der beobachteten Extreme eindeutig dem Klimawandel zugeschrieben werden können, so würden wir wertvolle Zeit für den Klimaschutz verlieren. Würden wir mit dem Klimaschutz zuwarten, bis Temperaturveränderungen auch in den Messungen sichtbar werden, und erst dann mit Klimaforschung beginnen, wären wir 50 Jahre zu spät.
Eduard Held: Man muss unterscheiden zwischen Realität und Modell, zwischen Fakten und dem, was man bis heute in den Daten sieht – und dem, was man für die Zukunft modelliert. Das sind zwei unterschiedliche Dinge.
David Bresch: Was nicht sinnvoll ist zu sagen: Wir warten, bis wir in den Daten Signale sehen, bevor wir handeln. Und zwar, weil wir ein Systemverständnis haben, das uns sagt: Die bisherigen Daten sowie unser Verständnis der Systeme und Prozesse zeigen in eine klare Richtung. Deshalb hat sich die Schweiz auch zum Netto-Null-Ziel verpflichtet. Dies geschah aufgrund des Systemverständnisses. Niemand von uns kann das Jahr 2070 voraussagen. Wir dürfen auf keinen Fall mit dem Handeln zuwarten, bis alles gemessen ist.
Realität vs. Modell: «Wir müssen zwischen Fakten – also dem, was man heute in den Daten sieht – und Modellen differenzieren», sagt Eduard Held (rechts).
Stichwort fortschreitender Klimawandel: Wird es einmal Kipp-Punkte, sogenannte Tipping Points, geben?
David Bresch: Tipping Points sind unumkehrbare Veränderungen in komplexen Systemen, die es sehr schwierig oder unmöglich machen, zum vorherigen Zustand zurückzukehren. Besonders betroffen sind Ökosysteme wie die polaren Eisschilde oder Regenwälder, die auf bestimmte klimatische Bedingungen angewiesen sind. Während viele Ökosysteme seltene einzelne Extremereignisse bewältigen können, geraten sie durch mehrere sich verändernde Faktoren zunehmend aus dem Gleichgewicht. Die Eintrittswahrscheinlichkeit für einzelne Tipping Points ist gering, steigt jedoch mit zunehmender Belastung des Systems. Die fortschreitenden globalen Treibhausgasemissionen führen zu einer starken Zunahme dieser Belastung, was die Auftretenswahrscheinlichkeit unumkehrbarer Kipp-Punkte erhöht.
Es gibt keine genauen Prognosen, wann Tipping Points eintreten. Stattdessen gibt es Projektionen, die Wahrscheinlichkeiten darstellen. Dies ähnelt der Risikoabschätzung bei Erdbeben: Wir verstehen die zugrunde liegenden Prozesse und können Wahrscheinlichkeiten berechnen, nicht jedoch den Zeitpunkt einzelner Beben.
«Die Eintrittswahrscheinlichkeit einzelner unumkehrbarer Kipp-Punkte ist gering, steigt jedoch mit zunehmender Belastung des Systems.»
Die Eindämmung des Klimawandels und die Anpassung erfordern langfristiges Denken und Handeln.
David Bresch: Wir haben Prozesse in einem globalen, komplexen System angestossen, die sich über Jahrzehnte auswirken und nur schwer aufzuhalten oder zurückzudrehen sind. Unsere politischen Entscheidungsprozesse sind jedoch auf kurze Zeiträume wie Jahres- oder Legislaturperioden ausgelegt. Deshalb entwickelt die ETH zusammen mit weiteren Partnern im Projekt «Klima CH2025» Klimaszenarien für die Schweiz, um wissenschaftliche Erkenntnisse und langfristiges Verständnis in den politischen Prozess einzubringen.
Eduard Held: Die Hauptaufgabe der Forschung ist es, Erkenntnisse zu gewinnen und Verständnis zu schaffen – nüchtern und faktenbasiert. Wichtig ist, dass sie keine Politik betreibt, sonst verliert sie an Glaubwürdigkeit. Es liegt an Parlament und Regierung, Entscheide zu fällen und Gesetze zu erlassen.
David Bresch: Die Forschung klärt auf und bietet Entscheidungsgrundlagen. Wie weit wir dann aufgrund von Projektionen handeln, ist eine politische Entscheidung. Wenn wir auch im Jahr 2050 Wohlstand wollen, ist es ratsam, das Klima in unsere Überlegungen einzubeziehen.
«Wenn wir auch im Jahr 2050 Wohlstand wollen, müssen wir das Klima in unsere Überlegungen einbeziehen.»
Erkenntnisse gewinnen: «Die Forschung klärt auf und bietet Entscheidungsgrundlagen für die Politik», sagt David Bresch (links).