
Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Doch wie gut ist die KI wirklich – und welche Rolle spielt sie für die Versicherungsbranche? Sita Mazumder, Professorin für Informatik und Wirtschaft an der Hochschule Luzern, ordnet im Interview mit Daniel Schriber ein.
Seit der Veröffentlichung des interaktiven Sprachmodells ChatGPT hat das Thema in der breiten Öffentlichkeit eine enorme Präsenz erlangt. Die Leute können nun selbst ausprobieren, welches Potenzial die neue Technologie hat. Mit diesen jüngsten Entwicklungen hat die Künstliche Intelligenz einen enormen Schritt vorwärts gemacht. Bei den neuen Sprachmodellen handelt es sich um Tools mit grossem Potenzial, die sich laufend weiterentwickeln.

Die Zukunft wird in der Kombination von menschlicher und künstlicher Intelligenz liegen: Sita Mazumder, Professorin für Informatik und Wirtschaft an der Hochschule Luzern.
Das ist die grosse Glaskugelfrage. Die Entwicklung dürfte in den kommenden Jahren weiter vorangetrieben werden. Und je intensiver und vielseitiger die Systeme eingesetzt werden – und umso mehr Daten wir für deren Training haben –, desto besser werden sie. Klar ist aber auch: Es geht jetzt nicht immer im gleichen Tempo vorwärts; es wird auch Pausen und Rückschläge geben.
Wo Chancen sind, sind auch Herausforderungen. Deren gibt es mehrere. Ein grosser Themenbereich ist sicherlich die rechtliche Situation, so beispielsweise das Urheberrecht. Das ist zwar nicht neu – doch je fähiger die Künstliche Intelligenz wird, desto mehr akzentuiert sich das Thema.
Wir befinden uns in einer Phase, in der Informationen zu jeder Zeit im Übermass verfügbar sind. Die grosse Herausforderung ist, diese Informationen zu qualifizieren.
Wir befinden uns in einer Phase, in der Informationen zu jeder Zeit im Übermass verfügbar sind. Die grosse Herausforderung ist, diese Informationen zu qualifizieren. In Zukunft müssen wir uns mehr denn je fragen: Wie glaubwürdig sind die vorliegenden Informationen? Wo kommen sie her, wem gehören sie?
Absolut, das Thema ist alt. Schon vor der digitalen Zeit galt es, Informationen zu qualifizieren. Mit den neuen digitalen Werkzeugen, die nun auch selbstständig Informationen generieren können, haben wir jedoch einen zusätzlichen Player im System: die Maschine. Diese Entwicklungen zwingen uns noch viel vehementer, uns mit der Thematik auseinanderzusetzen.
Riesig! Egal in welcher Branche, in welcher Funktion oder in welchem Prozess: Künstliche Intelligenz lässt sich überall unterstützend, ergänzend, ersetzend einsetzen.
Viel Hoffnung. Wir wissen, dass wir im Gesundheitswesen vor enormen Herausforderungen stehen. Ob in der effizienten Prozessabwicklung, bei präzisen Behandlungen am Patienten oder für die Bewältigung von gesellschaftlichen Veränderungen wie etwa der Überalterung, um nur drei der zahlreichen Herausforderungen zu nennen: Künstliche Intelligenz wird eine bedeutende Rolle spielen und kann überall Teil der Lösung sein.
Künstliche Intelligenz kann zum Beispiel dabei unterstützen, Risiken zu erkennen, mögliche Betrugsfälle zu detektieren, Prozesse effizienter zu gestalten, Produkte adäquater zu entwickeln und vieles mehr.
Salopp gesagt würde ich zwei Bereiche unterscheiden, die naturgegeben auch eine Überlappung haben: Der eine ist stärker intern, der andere mehr extern. Intern kann Künstliche Intelligenz zum Beispiel dabei unterstützen, Risiken zu erkennen, mögliche Betrugsfälle zu detektieren, Prozesse effizienter zu gestalten, Produkte adäquater zu entwickeln und vieles mehr. Unter extern verstehe ich mehr die Möglichkeiten, die die Kundschaft direkt wahrnimmt.
Nehmen wir die Customer Journey als Beispiel: KI ermöglicht es schon heute – und in Zukunft noch stärker –, den Kunden mit seinen Bedürfnissen schnell wahrzunehmen und noch gezielter zu bedienen.
Jein. Wir sehen seit geraumer Zeit, dass es in Sachen Individualisierungsgrad zwei Trends gibt: entweder hoch individualisiert, und dann darf es auch etwas kosten, oder dann wenig bis nicht individualisiert – und dann entscheidet der tiefste Preis. Der Zwischenbereich – also mittelmässige Individualisierung und durchschnittlicher Preis – hat zunehmend Schwierigkeiten.
Da die Versicherungsbranche sehr heterogen aufgestellt ist, lässt sich das nicht pauschal beantworten. Es gibt in gewissen Bereichen Front-Runners in der Branche – und es gibt auch das Gegenteil. Das ist auch nicht zu werten und es ist wenig überraschend, denn KI-Anwendungen lassen sich nicht simpel in Betrieb nehmen. Wer auf diese Technologie setzt, muss bereit sein, Kosten und Aufwand auf sich zu nehmen – und das will überlegt und richtig getan sein.
Wenn es darum geht, Künstliche Intelligenz als kreierenden Mehrwert zu nutzen, besteht noch grosses Potenzial.
Wenn es darum geht, Künstliche Intelligenz als kreierenden Mehrwert zu nutzen, besteht noch grosses Potenzial.
Sita Mazumder
Nein. Die intelligente Datenauswertung beispielsweise gehört ebenso zum heutigen Werkzeugkasten wie eine traditionelle Tabellenkalkulation. In der Automatisierung zum Beispiel sind wir vielerorts weit fortgeschritten – dies etwa im Bereich der Schadensmeldungen. Wenn es aber darum geht, Künstliche Intelligenz als kreierenden Mehrwert zu nutzen, besteht noch grosses Potenzial.
Künstliche Intelligenz ist nicht trivial. Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet sind Mangelware. Das ist ein Teil der Arbeitsmarktrealität, die vielen Unternehmen Schwierigkeiten bereitet. Aber auch der Datenschutz ist einschneidend.

Künstliche Intelligenz ist nicht trivial. Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet sind Mangelware.
In der Tat. Fakt ist aber, Künstliche Intelligenz ist eine Datenkrake. Um die Systeme sauber und verlässlich zu trainieren, um damit neue Erkenntnisse generieren zu können, braucht es grosse Datenmengen. Diese müssen einerseits in genügender Quantität und Qualität vorhanden sein, andererseits muss man sie aber auch verwenden dürfen. Und weil Versicherer naturgemäss über viele persönliche Daten verfügen, stellt sich die Frage nach dem Datenschutz in dieser Branche ganz besonders.
Die Effekte sind umfassend in Art und Inhalt. Ich möchte hier ebenfalls zwei Sichtweisen unterschieden: die institutionelle und die individuelle. Neue Technologien bringen immer auch Ängste und Unsicherheiten mit sich. Bei der Künstlichen Intelligenz gilt dies besonders, da diese Technologie teilweise sogar existenzielle Befürchtungen auslöst. Aus institutioneller Sicht ist es somit entscheidend, die Arbeitnehmenden auf die Reise mitzunehmen und sie umfassend und transparent über die Auswirkungen und Veränderungen aufzuklären.
Ein wichtiges Thema ist die eigene Arbeitsmarktfähigkeit, die man stets im Auge behalten sollte.
Sita Mazumder
Ein wichtiges Thema ist die eigene Arbeitsmarktfähigkeit, die man stets im Auge behalten sollte. Denn klar ist: Jobs verändern sich. Manche Profile fallen weg, andere kommen neu dazu. Das ist per se auch nichts Neues, aber die Geschwindigkeit und Durchdringung, mit der diese Entwicklungen heute voranschreiten, ist eine andere.
Das ist eine Angst, die weit verbreitet ist. In gewissen Funktionen ist das schon passiert – oder es wird noch geschehen. Aber auch das ist nicht neu. Die Industrialisierung hat die Arbeitswelt stark verändert – und auch damals gab es nebst der Euphorie viele Ängste. Als das Auto auf die Strasse kam, fürchteten nicht wenige, dass dieses uns alle töten werde.
Ja, zum Glück. Aber es gibt einen Aspekt, der mir am Herzen liegt: Wir sind heute zu schnell und zu oft im Szenario Mensch oder Maschine. Ich glaube, dass sich die beiden Faktoren nicht ausschliessen. Es sollte vielmehr Mensch und Maschine heissen. Wir sollten somit nicht nur von Artificial Intelligence sprechen, sondern vermehrt auch von «Augmented oder Combined Intelligence» – also von der Kombination von menschlicher und künstlicher Intelligenz.
Prof. Dr. Sita Mazumder ist seit 2005 Professorin für Informatik und Wirtschaft an der Hochschule Luzern. Sie ist seit 2022 Mitglied des Verwaltungsrats der Helsana-Gruppe. Weitere Verwaltungsratsmandate übt sie unter anderem bei Clientis, Palfinger und Josef Manner aus. Zudem ist die an der ETH und an der Universität Zürich ausgebildete Informatik-Ingenieurwissenschafterin und Ökonomin Mitglied der Eidgenössischen Elektrizitätskommission.
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