Ei­ne Knack­nuss na­mens Ren­ten­re­form

Kontext

Reformen der Altersvorsorge haben es seit 20 Jahren schwer in der Schweiz. Der als selbstverständlich empfundene Wohlstand, die zunehmende Individualisierung und der Dauerwahlkampf in einer polarisierten Politlandschaft sind Erklärungen dafür. Frische Ideen könnten helfen.

Die Situation ist paradox. In der Schweizer Bevölkerung herrscht seit Jahren grosse Einigkeit darüber, dass die Sicherung der Altersrente zu den grössten Problemen unserer Zeit gehört. Das manifestiert sich jeweils im Sorgenbarometer der Credit Suisse. In der Schweiz ist die soziale Sicherheit im Alter selbst für die 16­ bis 25­Jährigen die grösste Sorge. Das ist insofern bemerkenswert, als Gleichaltrige aus Ländern mit deutlich weniger gut ausgebauten Sozialsystemen – etwa aus den USA oder Brasilien – diesbezüglich deutlich gelassener in die Zukunft blicken.
 

Gescheitert, verworfen, ignoriert

Trotz dieser allgegenwärtigen Sorge der Schweizer Bevölkerung um die Altersrente sind Reformen des Rentensystems nur schwer bis gar nicht durchzubringen. Der letzte grosse Wurf zur strukturellen Reform der AHV gelang 1995 mit der 10. AHV­Revision. Diese brachte dank Kompensationsleistungen eine schrittweise Erhöhung des Frauenrentenalters von 62 auf 64 Jahre. In den vergangenen 20 Jahren sind hingegen mehrere Revisionsversuche sowohl der AHV als auch der beruflichen Vorsorge (BVG) gescheitert.

Obwohl die Altersvorsorge offenbar grosse Sorgen bereitet, ist die Beteiligung an einschlägigen Abstimmungen nicht besonders hoch. Als 2017 über die Reform «Altersvorsorge 2020» abgestimmt wurde, lag die Stimmbeteiligung bei durchschnittlichen 46,7 Prozent. Für das Jagdgesetz, bei dem es um den Schutz des Wolfes ging, und die Vorlage zum Vaterschaftsurlaub legten 2020 fast 60 Prozent der Stimmberechtigten ihre Stimmzettel ein; bei der Pflegeinitiative gut ein Jahr später waren es sogar über 65 Prozent. Unter den 37 Abstimmungsvorlagen mit den höchsten Stimmbeteiligungen seit 1974 befindet sich keine einzige zur Altersvorsorge.

Knachnuss Rentenreform

Gescheitert, verworfen, ignoriert: Reformen der Altersvorsorge haben es seit 20 Jahren schwer in der Schweiz.

Keine Emotionen

Der Politgeograf Michael Hermann vom Forschungsinstitut Sotomo erklärt diesen Umstand damit, dass die Altersvorsorge anders als die Debatten um den Wolf oder den «Pflegenotstand» emotional wenig zu bieten hat. «Lebensweltliche Dinge interessieren die Leute viel mehr als Systemdiskussionen», sagt er. Nun steht die nächste Abstimmung zu einer AHV­Reform vor der Tür. Die Vorlage «AHV 21» dürfte die Stimmbevölkerung im kommenden Herbst beschäftigen. Dass es auch für diese Vorlage schwierig werden könnte, liegt auf der Hand. Gleichwohl räumt Michael Hermann der Vorlage eine gar nicht so schlechte Chance auf Erfolg ein. Die Blockade wäre mit einem Ja zu «AHV 21» längst noch nicht überwunden. Es braucht eine tiefgreifende Reform der gesamten Altersvorsorge, ohne das Bekenntnis zum Dreisäulensystem über Bord zu werfen. Doch woran scheiterten die Reformvorhaben der beiden letzten Jahrzehnte? Waren sie zu langweilig? Zu kompliziert? Zu teuer? Zu weit weg von den Befindlichkeiten der Bevölkerung? Oder ist die Bevölkerung einfach ermattet von einer Debatte, die sich seit Jahren im Kreis dreht und letztlich nichts Erfreuliches in Aussicht stellt?

Für den Politik­ und Medienwissenschafter Lukas Golder vom GfS­Forschungsinstitut in Bern tragen drei Faktoren wesentlich zum Reformstillstand bei: eine auf dem Wirtschaftswachstum gründende Unbeschwertheit im Umgang mit den Sozialwerken, eine zunehmende Individualisierung und der Dauerwahlkampf in einer zusehends polarisierten Politlandschaft.
 

Hoch lebe der Status quo!

Seit 40 Jahren, sagt Golder, bekomme die Schweizer Bevölkerung gesagt, dass die AHV nicht gesichert sei. Doch mehr als Rhetorik ist diese Alarmmeldung laut Golder nicht, zumindest nicht in der Lebensrealität der Bevölkerung.

Der Schweiz geht es gut, selbst in der Krise. Der hiesige Arbeitsmarkt erweist sich trotz Pandemie bei allen Altersgruppen als äusserst robust, der Wirtschaftsmotor brummt und sorgte bisher dafür, dass niemand unmittelbar um seine Rente fürchten muss. «Die Untergangsszenarien wirken vor diesem Hintergrund hochgeredet», sagt Golder. Natürlich spricht die Demografie eine klare Sprache; das Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Rentnern wird sich zuungunsten des Rentensystems verändern. Doch die Demografie ist nur die eine Seite der Rechnung. Die andere werde von der Dynamik der Wirtschaft bestimmt, sagt Golder, und diese lasse sich nicht so leicht vorausberechnen wie die demografische Entwicklung.

«Der eigene Vorteil bestimmt den Entscheid auf dem Stimmzettel.» Lukas Golder

Dass das Bewusstsein für die Probleme der Altersvorsorge in der Bevölkerung grundsätzlich vorhanden ist, glaubt auch Michael Hermann. «Doch bei der Abstimmung ist die eigene Rente wichtiger als das System», sagt er. Das hat laut Hermann auch damit zu tun, dass der Einzelne auf das komplexe Gebilde der ersten und zweiten Säule nur einen verschwindend kleinen Einfluss hat, was wenig Identifikation mit diesen Sozialwerken zulasse. Hätten die Versicherten in der zweiten Säule mehr Mitspracherecht, könnte das anders sein, meint Hermann.

Lukas Golder sieht es ähnlich. «Der eigene Vorteil bestimmt den Entscheid auf dem Stimmzettel», sagt er. Die Schweizer Bevölkerung sei eigentlich aufgeschlossen gegenüber Fragen der Nachhaltigkeit. «Aber unter dem Eindruck des Wirtschaftswachstums und des allgemeinen Wohlstandsniveaus ist man nicht bereit, den Sozialstaat abzubauen.»
 

Ungeliebter Rückbau

Darin spiegelt sich laut Golder die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft. Das wiederum passt zur Polarisierung der Politik. Laut Golder hat der Reformstau insbesondere bei der Altersvorsorge viel mit einer grundsätzlichen Krise der Konkordanz zu tun. Typisch schweizerische Kompromisse werden laut Golder zusehends schwierig. «Es gibt», sagt er, unter den politischen Lagern «einen deutlichen Unwillen, aufeinander zuzugehen.» Die Linke träumt von einer Volkspension mit maximaler Umverteilung von oben nach unten, derweil die «Altersvorsorge 2020» wegen neuer Giesskannenbezüge am Widerstand von Mitte­Rechts gescheitert ist.
 

Kreative Ideen gesucht

Was also ist zu tun, um diesen gordischen Knoten durchzuschlagen? Reiner Eichenberger, Professor für Finanzwissenschaften an der Universität Freiburg, plädiert dafür, die Altersvorsorge neu zu denken. Die heutigen Reformvorschläge setzten offenkundig auf falsche Massnahmen.

Eichenberger schlägt drei Umbaumassnahmen vor. Erstens: Rentenaufschub sofort belohnen. Wer bereits mit 55 entscheidet, erst mit 67 in Rente zu gehen, soll umgehend in den Genuss von tieferen Beitragssätzen kommen. Zweitens: Halbierung der Steuern auf Arbeitseinkommen bei gleichzeitigem Rentenbezug. Heute bezahlen erwerbstätige Rentner laut Eichenberger darauf schnell 40 bis 50 Prozent Steuern, weil es zur Rente addiert wird und so voll in die Progression gerät. Würden Steuern und Abgaben auf Einkommen aus Arbeit im Alter halbiert, wäre das Weiterarbeiten viel attraktiver. Und drittens: Die daraus resultierenden Steuermehreinnahmen sollen nicht in die allgemeine Staatskasse, sondern gezielt in die Altersvorsorge fliessen. All das könnte man, glaubt Eichenberger, der Bevölkerung gut «verkaufen».

Der Verzicht auf eine «harte Linie» beim Rentenalter würde überdies die Position von älteren Arbeitnehmenden auf dem Arbeitsmarkt stärken. «Für über 60­Jährige ist die ‹begrenzte Restlaufzeit› das grösste Hemmnis auf dem Arbeitsmarkt», sagt Eichenberger. Es macht sie sozusagen zu einem Auslaufmodell, das weder für das Team noch für den Arbeitgeber besonders interessant ist.

Grafik Knacknuss Rentenreform_DE

Schweizer Altersvorsorge: die wichtigsten Zahlen.

Eine Frage der Gerechtigkeit

«Die Menschen arbeiten grundsätzlich gern», sagt Eichenberger. «Nicht die Arbeit, sondern das gegenwärtige Steuer­ und Rentensystem ist das Problem.» Eine andere Idee legt Michael Hermann von Sotomo auf den Tisch. Er schlägt vor, dass das Rentenalter von Personen mit tertiärem Bildungsabschluss grundsätzlich ein bis zwei Jahre höher angesetzt werden sollte als bei Personen ohne Tertiärabschluss.

Das wäre nicht nur für die Finanzierung der Sozialwerke von Vorteil, es ist für Hermann auch eine Frage der Gerechtigkeit. Wer als Teenager eine Lehre beginnt und fortan erwerbstätig ist, arbeitet mehr Lebensjahre als ein Hochschulabsolvent, der auf Kosten der Allgemeinheit eine lange Ausbildung geniesst und erst mit 30 ins Berufsleben eintritt. Kommt dazu, dass Personen mit tertiärer Ausbildung ohnehin oft und gerne über die ordentliche Pensionierung hinaus arbeiten.

Um Gerechtigkeit geht es bei der Altersvorsorge auch noch in anderer Hinsicht. Reiner Eichenberger bemängelt am heutigen System, dass hier in aller Stille eine markante Umverteilung von jungen beziehungsweise neu zugewanderten Ausländern zu Einheimischen stattfindet. Jüngere Zugewanderte haben in aller Regel keine Eltern in der Schweiz, finanzieren aber die Renten für die Eltern der Einheimischen mit. Eichenberger spricht in diesem Zusammenhang von einer «impliziten Zuwanderungssteuer» zumindest im Rahmen der AHV. Ehrlicher und effizienter wäre – wenn schon so eine Steuer – eine explizite, meint er. Vielleicht ist das ja auch ein Thema für eine der nächsten Reformvorhaben.

Glossar

Die AHV wird nach dem Umlageverfahren finanziert. Laufende Einnahmen (vor allem Beiträge von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden, Beiträge des Bundes und MWST­Erträge) decken die laufenden Ausgaben (besonders Renten).

Beim Referenzalter handelt es sich um den Zeitpunkt, in welchem die versicherte Person ihre Altersrente beziehen kann, ohne eine Kürzung infolge Vorbezug zu erfahren oder einen Zuschlag infolge Aufschub zu erhalten.

Berufliche Vorsorge (BVG)

Die berufliche Vorsorge wird nach dem Kapitaldeckungsverfahren finanziert. Für alle Versicherten wird während des Erwerbslebens individuell ein Altersguthaben in der Pensionskasse angespart. Hierzu werden jährliche Altersgutschriften gutgeschrieben. Diese werden in Prozenten des koordinierten Lohnes festgelegt. Der Prozentsatz hängt vom Alter der versicherten Person ab.

Der Koordinationsabzug beträgt 7/8 der maximalen einfachen AHV­Rente (Stand 2022: 25’095 Franken). Auf diesem Teil des Lohnes müssen keine Altersgutschriften gutgeschrieben werden.

Der Umwandlungssatz bestimmt zusammen mit dem vorhandenen Altersguthaben die Höhe der Altersrente. Ein Umwandlungssatz von sechs Prozent bedeutet, dass je 100‘000 Franken angespartem Altersguthaben bis ans Lebensende jährlich 6000 Franken Rente ausbezahlt werden.

Die Übergangsgeneration besteht aus denjenigen Versicherten, die innerhalb einer bestimmten Frist (z. B. 10, 15 oder 20 Jahre) nach Inkrafttreten der Reform pensioniert werden.