«Die Ver­si­che­rer in­ves­tie­ren ge­zielt in den Be­rei­chen Nach­hal­tig­keit und Tech­no­lo­gie»

Interview

Die Versicherungsbranche zählt zu den effizientesten Wirtschaftszweigen in der Schweiz. Sie trägt mit etwa halb so vielen Beschäftigten ähnlich viel zur Wertschöpfung bei wie die Bankenbranche. Zu diesem Ergebnis gelangt die jüngste BAK-Bedeutungsstudie zum Finanzplatz 2021. Dabei kommt der Nachhaltigkeit eine besondere Bedeutung zu. Frédéric Pittet, Fachverantwortlicher für Wirtschaftsfragen beim Schweizerischen Versicherungsverband SVV, erläutert das aktuelle Zahlenmaterial.

Frédéric Pittet, in der Studie von BAK Economics zur volkswirtschaftlichen Bedeutung des Schweizer Finanzsektors fällt vor allem eines auf: Die Versicherungsbranche ist innerhalb des Finanzsektors die mit Abstand profitabelste. Mit 273 Franken pro Stunde fällt ihre Produktivität fast drei Mal höher aus als jene der Gesamtwirtschaft. Worauf ist das zurückzuführen?

Zum einen war die Versicherungsbranche von der Dotcomkrise im Jahr 2000 sowie von der Finanzkrise ab 2007 deutlich weniger stark betroffen als zum Beispiel der Bankensektor. Zum anderen sind die Vorleistungen in der Versicherungswirtschaft tiefer als in anderen Sektoren. Dies ist insofern von Relevanz, weil die Bruttowertschöpfung einer Branche das Resultat des Bruttoproduktionswertes abzüglich der Vorleistungen darstellt. Ein anschauliches Beispiel für tiefe Vorleistungen innerhalb der Versicherungswirtschaft sind die Rückversicherer. Sie gelten als die Produktivsten der Branche und verzeichneten zwischen 2003 und 2009 ein starkes Wachstum. Anschliessend führten die verschärfte Wettbewerbssituation und die damit verbundene Prämienabnahme in den Jahren 2010 und 2011 zu einer Korrektur. Diese Abnahme war jedoch nur vorübergehender Natur – und die Bruttowertschöpfung nahm dank der gestiegenen Zahl von Neuansiedlungen wieder zu.

Frédéric Pittet, Fachverantwortlicher für Wirtschaftsfragen beim Schweizerischen Versicherungsverband SVV

Ordnet das aktuelle Zahlenmaterial aus der BAK-Bedeutungsstudie ein: Frédéric Pittet

Wovon speziell Zürich profitierte?

Korrekt. Gerade für den Versicherungsstandort Zürich sind die Rückversicherungen ein bedeutender Wachstumstreiber. Aber auch die Schadenversicherungen konnten ihre Wertschöpfung zwischen 2002 und 2018 aufgrund günstiger Schadenquoten signifikant steigern. Einzig die Lebensversicherer verzeichneten ein schwächeres, wenngleich konstantes Wachstum.

Gut 430’000 Vollzeitstellen sind direkt oder indirekt mit dem Finanzsektor verbunden. Damit ist dieser und mit ihm die Versicherungswirtschaft von hoher volkswirtschaftlicher Bedeutung. Dennoch nimmt bei Banken und Versicherungen die Beschäftigtenzahl seit Jahren ab. Wie passt das zusammen?

In den Nullerjahren wurden insbesondere im Maklerwesen und in der IT Stellen ausgelagert. Gleichzeitig führte dieser Umstand zu einer Stellenzunahme bei den übrigen Finanzdienstleistern. In der jüngsten Vergangenheit war in der Versicherungswirtschaft aber eine Umkehr zu beobachten. Seit einiger Zeit stabilisiert sich die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Branche. Dort, wo die Versicherer gezielt investieren – das ist primär bei neuen Technologien und im Bereich der Nachhaltigkeit der Fall –, steigt der Personalbestand wieder an.

«Zu den grossen Risiken unserer Zeit gehören unbestritten der Klimawandel sowie der Verlust an Biodiversität. Beide können zu massiven Schäden in Wirtschaft und Gesellschaft führen.»

Nachhaltigkeit ist ein gutes Stichwort. Der ökonomische Fussabdruck des Schweizer Finanzplatzes lag im Jahr 2020 bei 95,5 Milliarden Franken. Wie äussert sich dieser Trend hin zu mehr Nachhaltigkeit in der Versicherungsbranche konkret?

Nachhaltigkeit und Prävention gehören seit jeher zum Versicherungsgeschäft. Sie werden bei der Beurteilung von Risiken, aber auch bei der Ausgestaltung von Versicherungsverträgen und in der Schadenprävention immer miteinbezogen. Zu den grossen Risiken unserer Zeit gehören unbestritten der Klimawandel sowie der Verlust an Biodiversität. Beide können zu massiven Schäden in Wirtschaft und Gesellschaft führen. Die Privatversicherer sind sich ihrer volkswirtschaftlichen Relevanz bewusst. Darum hat der SVV die Nachhaltigkeit – und damit meinen wir nicht allein die ökologische Nachhaltigkeit – in seiner Strategie 2020–2024 verankert. Wir treiben den Dialog auf politischer Ebene voran. Es ist für uns zentral, zu diesem wichtigen Thema angehört zu werden, denn wir wollen eine stabile und glaubwürdige Partnerschaft zwischen öffentlichem und privatem Bereich aufbauen.

Nachhaltigkeit hat verschiedene Aspekte und zeigt sich unter anderem in den Anlagestrategien der Versicherungsbranche …

Genau! Diesen Anlagestrategien verhelfen wir mit dem seit 2020 erscheinenden Nachhaltigkeitsreport der Schweizer Versicherungswirtschaft zu einer detaillierteren und über die Jahre vergleichbareren Aussenwahrnehmung. Daraus geht unter anderem hervor, ob Nachhaltigkeitskriterien bei Anlageentscheiden in der Versicherungsbranche miteinbezogen werden. Zuletzt lag dieser Anteil bei 83 Prozent der selbstverwalteten Anlagen. Das sind mehr als 360 Milliarden Franken, was etwa der Hälfte des nationalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht. Während sich die Versicherungsindustrie bisher vorwiegend im Anlagegeschäft mit Nachhaltigkeitsrisiken auseinandergesetzt hat, verlagert sich die Aufmerksamkeit nun zunehmend auf das eigentliche Versicherungsgeschäft, das Underwriting.

Der Schweizer Finanzsektor ist regional stark konzentriert. Welches sind die bedeutenden Hotspots?

Zürich und Genf führen die Rangliste an. Der Finanzplatz Zürich ist das Zentrum des Schweizer Finanzsektors schlechthin; seine Bruttowertschöpfung beträgt mehr als 27 Milliarden Franken. Mit 7,5 Milliarden Franken Bruttowertschöpfung kommt Genf an zweiter Stelle, gefolgt von Bern mit 5 Milliarden Franken. Die kantonalen Finanzplätze unterscheiden sich aber nicht nur hinsichtlich ihrer Wirtschaftsleistung, sondern auch in ihrer Struktur. Im Kanton Zürich erwirtschaften Banken und Versicherungen etwa gleich viel Wertschöpfung. In den Kantonen Genf und Tessin überwiegen die Banken, derweil in den Kantonen Bern, Waadt, Basel-Stadt und Luzern die Versicherungen die Nase vorn haben.