Theorie und Definitionen
Kapitel
Definition Emerging Risks
Die Bezeichnung «Emerging Risks» ist in der Assekuranz nicht einheitlich definiert. Das Verb ’to emerge’ stammt aus dem Englischen und meint ’herausragen, aufkommen, sich entwickeln oder auch auftauchen’. Auf Risiken übertragen heisst dies, sie tauchen mit unscharfen Konturen am Horizont auf und stellen eine Vision einer möglichen zukünftigen Gefahr dar. Dieses Problem zeigte sich in den letzten Jahren u.a. im Bereich des Klimawandels, der Pandemie sowie an folgenden Beispielen: Cyber Risks, Nanotechnologie oder Internet of Things bzw. Industrie 4.0.
Von «traditionellen» Risiken unterscheiden sich Emerging Risks dadurch, dass sie sich dynamisch – auch über einen langen Zeitraum, wie z. B. bei Asbest – entwickeln und dementsprechend das Schadenpotenzial normalerweise erst im Nachhinein in vollem Umfang erkennbar wird.
Merkmale von Emerging Risks
Emerging Risks haben oft folgende Merkmale:
- Emerging Risks sind – aufgrund des sogenannten «all risk-Prinzips» in der Haftpflichtbranche (alles ist gedeckt, was nicht «expressis verbis» ausgeschlossen ist) – oft bereits in Portefeuilles der Versicherer enthalten, ohne dass ihnen dies wirklich bewusst ist;
- Die traditionelle Risikoeinschätzung ist nicht anwendbar, da die Eintrittswahrscheinlichkeit und das mögliche Schadenausmass nicht bekannt sind;
- In einer globalisierten Welt lassen sich Emerging Risks geografisch und branchenmässig nicht eingrenzen;
- Emerging Risks sind nur beschränkt erkennbar. Die Wahrnehmung der Gefährdung ist recht unterschiedlich, schwer zu beschreiben und zu beurteilen;
- Die adäquate Kausalität zwischen Risikoquelle (Ursache) und Schadenfolge (Wirkung) ist oft (noch) nicht nachweisbar;
- Emerging Risks sind dynamisch, d.h. sie befinden sich in ständigem Wandel. Technologische Fortschritte, neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse, dann auch veränderte wirtschaftliche Umstände oder aber Änderungen des rechtlichen oder gesellschaftlichen Umfelds stellen das sogenannte «Änderungsrisiko» dar und sind somit eine grosse Herausforderung für den Haftpflicht-Underwriter.
Am Ende des Tages führen Emerging Risks zu einer in ihrer Art und ihrem Umfang veränderten Gefahrenlage. Wichtig für den Versicherer ist hier der Blick auf schon eingegangene Deckungsverpflichtungen. Er hat die Risiken bereits in den Büchern, kann aber die für die zusätzlichen, neuen Risiken nötigen Prämienerhöhungen und/oder den Deckungsumfang bezüglich dieser Verpflichtungen nicht im Gleichschritt mit dieser Risikoerhöhung durchsetzen.
Änderungsrisiko – das besondere versicherungsspezifische Merkmal
Aus Sicht des Haftpflichtversicherers lassen sich die den Emerging Risks zu Grunde liegenden Parameter wie folgt unterteilen:
- Gesellschaftliche/ökonomische Aspekte
- Rechtliche Entwicklungen sowie
- Technologische und wissenschaftliche Entwicklungen
Bei den nachstehend aufgezeigten Risiken müssen die einzelnen Aspekte dieser Entwicklungen und deren Einfluss auf die Risikolandschaft unbedingt in dem Zusammenhang beachtet werden, dass wir uns hier in einem äusserst dynamischen Umfeld bewegen und dass sich das Bild der beschriebenen Emerging Risks und damit auch deren Versicherbarkeit in die eine oder andere Richtung verschieben können.
Gesellschaftliche / ökonomische Aspekte
Im wandelnden Rechtsbewusstsein wird der Gedanke, dass ein Geschädigter einen Schaden als sein eigenes «Lebensrisiko» selber zu tragen hat, immer mehr abgelehnt (Anspruchsmentalität). Als soziale Quellen der Veränderung von gewissen Risiken, welche die heutige Risikogesellschaft massgebend prägen, sind insbesondere folgende Entwicklungen von Bedeutung:
- Erhöhtes Sicherheitsbedürfnis und verminderte Risikoakzeptanz
- Verbesserte und umfassendere Risikoinformation
- Beeinflussung durch Social Media
- Veränderte Risikowahrnehmung
- Zunahme der organisierten Rechtsdurchsetzung durch Interessensverbände
- Lifestyle-/Jugendwahn-Gesellschaft (Schönheitsoperationen, Hormontherapien, gewisse Extremsportarten etc.)
Wenn vermeintliche und tatsächliche Risiken des Alltags bewertet werden sollen, wie Elektrosmog, gentechnisch veränderte Organismen (GVO) in Lebensmitteln oder Nanopartikel, dann reden u.a. Wissenschaftler, Politiker, Konsumentenschutzorganisationen, Behörden und Medien mit. Die zentrale Frage, wie gross die Gefahren tatsächlich sind, bleibt vielfach offen. Dementsprechend kommt der Risikowahrnehmung jedes Einzelnen eine besondere Bedeutung zu.
Risiken, deren mögliche oder sogar wahrscheinliche Konsequenzen der Mensch zu kennen glaubt, geht er paradoxerweise relativ leicht ein. Er geht bei Rot über die Strasse, überholt im Auto an unübersichtlichen Stellen, atmet mit Lustgefühl krebsfördernden Zigarettenrauch ein, ernährt sich «falsch» oder betreibt risikoreiche Trendsportarten. Nur unbekannte Risiken machen ihm wirklich Angst.
Nach allgemeiner Erfahrung werden vor allem diejenigen Risiken überschätzt und als gefährlich empfunden, welche als schrecklich dargestellt werden und wo das plötzliche Auftreten mit vielen Toten, wie bei einem Flugzeugabsturz, dokumentiert wird. Schleichende Risiken, welche mit einer gewissen Regelmässigkeit auftreten (100 Autounfälle mit jeweils einem Toten), werden dagegen als weniger gravierend empfunden.
In diesem Zusammenhang ist auch die Rolle der Medien zu beachten. Einige neigen oft dazu, Tatbestände zu verzerren und stellen unwesentliche, jedoch in der Bevölkerung meinungsbildende und da und dort auch Ängste erzeugende Einzelheiten in den Vordergrund. Dies führt in breiten Bevölkerungskreisen zu einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis, welches oftmals durch entsprechende behördliche Aktivitäten begleitet wird.
Als Emerging Risk mit ökonomischem Hintergrund können die vielfältigen Folgen der Globalisierung bezeichnet werden. Zu denken ist etwa an die teilweise bereits erfolgte geografische Konzentration von Produktionsstätten in Niedriglohn-Ländern und die damit einhergehende Massenproduktion, welche die Gefahr in sich birgt, dass erwar-tete Sicherheitsstandards nicht eingehalten werden. Die Häufung der Anzahl Rückrufe von elektrischen oder elektronischen Produkten spricht hier eine deutliche Sprache. Hinzu kommt, dass durch den Aufbau weltumspannender Kommunikations-, Forschungs-, Handels- und Transportnetze Voraussetzungen geschaffen wurden, Innovationen und Produkte immer schneller grossräumig zu verbreiten. Damit verlieren räumliche Distanzen an Bedeutung, und verborgene Risiken können sich statt punktuell und geografisch limitiert in flächendeckenden, kumulierenden und weltweit auftretenden Schäden niederschlagen.
Rechtliche Entwicklungen
Die den Emerging Risks zu Grunde liegenden, vorstehend beschriebenen Parameter/Quellen bilden regelmässig die Ausgangslage für Veränderungen im rechtlichen Umfeld. Diese können sich durch Gesetzesänderungen, aber auch durch Weiterentwicklungen in der Rechtsprechung manifestieren.
In Bezug auf Emerging Risks mit rechtlichem Hintergrund stellt sich für den Rechtsanwender die Frage der Haftung bei Entwicklungsrisiken. Ein Entwicklungsrisiko liegt vor, wenn eine Sache oder eine Handlung zum Zeitpunkt der Inverkehrsetzung (Produktehaftung), der Emission (Umwelt) bzw. des Vertragsabschlusses (Vertragshaftung) mit einem nach dem Stand von Wissenschaft und Technik (unter Berücksichtigung weltweiter Forschung und Entwicklung) nicht erkennbaren Schadenspotential behaftet ist.
Soll z. B. derjenige, der ein neues Produkt auf den Markt bringt, daraus entstehende Entwicklungsschäden, die er nicht voraussehen konnte und daher auch nicht verschuldet hat, ersetzen müssen, oder soll der Geschädigte den Schaden schicksalshaft hinnehmen? Der Gesetzgeber hat diese Frage in der Schweiz, aber auch im europäischen Ausland – je nach anwendbarer Haftungsnorm – unterschiedlich geregelt.
Als Quellen von Emerging Risks treten ferner unter globaler Betrachtung Haftungsverschärfungen in den verschiedensten Formen in Erscheinung. Zu denken ist etwa an die Ausdehnung der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftungen, die Verringerung von Entlastungsmöglichkeiten, die Verlängerung von Verjährungsfristen sowie die Erhöhung der zugesprochenen Schadenersatz- und Genugtuungsleistungen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die in einzelnen Ländern erfolgte Implementierung neuer Instrumente zur vereinfachten Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen (z. B. Sammelklagen).
Auch das für Europäer schwer berechenbare US-amerikanische Rechtssystem und die damit oftmals einhergehenden, nicht nachvollziehbaren Gerichtsurteile müssen im weiteren Sinne als rechtliches Emerging Risk bezeichnet werden.
Technologische und wissenschaftliche Entwicklungen
Der immer schnellere wissenschaftlich-technische Fortschritt hat nicht nur völlig neue Technologien hervorgebracht, wie z. B. Gentechnologie oder Anwendungen von künstlicher Intelligenz, sondern auch bekannte Technologien in neue Dimensionen vordringen lassen. Sie werden die Welt verändern, so wie die Informationstechnologie (IT) dies schon getan hat. Dabei stellt sich die Frage, wie mit diesen neuen Bereichen und vor allem mit dem Phänomen des Ungewissen umgegangen werden soll. Die sich aus neuen Technologien ergebenden Chancen sollten genutzt werden können, ohne dass die möglicherweise damit verbundenen Gefahren ein akzeptables Mass überschreiten.
In den letzten Jahren sind die Haftpflichtversicherer immer wieder mit Stoffen, Produkten und Gefahrenquellen konfrontiert worden, deren schädliche Auswirkungen auf den menschlichen Körper zum Teil erwiesen sind, zum Teil aber erst vermutet werden. Es ist zu erwarten, dass mit der ständigen Verbesserung der technischen, medizinischen und wissenschaftlichen Nachweismöglichkeiten weitere bislang als harmlos angesehene Produkte und Substanzen als gesundheitsschädlich erkannt werden. Daneben führen immer weiter verfeinerte Techniken zu einer noch genaueren Bestimmbarkeit des Verursachers von Schädigungen und damit zu vermehrten Schadenersatzansprüchen.
Den meisten dieser Stoffe und Gefahrenquellen ist gemeinsam, dass Schädigungen der Gesundheit erst mit erheblicher Verzögerung erkennbar werden. Die volle Dimension damit zusammenhängender Haftpflichtrisiken für den Verursacher und seinen Versicherer wird sich daher erst in der Zukunft zeigen. Dies zeigte sich eindrücklich im Fall von Asbest. Jahrzehntelang galt Asbest als das Material der tausend Möglichkeiten, da es wie keine andere Faser für viele technische Produkte optimale Eigenschaften besitzt. Asbesthaltige Produkte wurden eingesetzt als Platten, Matten oder Formmassen für den Brandschutz und die Wärmeisolierung, als Brems- und Kupplungsbeläge im Fahrzeugbau sowie als Dichtungen bei hohen thermischen oder chemischen Beanspruchungen. Eine weitere Anwendung von Asbest fand bei der Herstellung von Faserzement-Produkten statt. Die Gefährlichkeit von Asbest basiert auf der Einatmung der Faserpartikel, welche über die Atemwege bis in die Lunge gelangen und dabei verschiedene Krankheiten wie Zwerchfellkrebs (Mesothelioma) oder Lungenkrebs verursachen können. Obschon in der Schweiz 1990 ein generelles Asbestverbot erlassen wurde, können Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Asbest, namentlich bei nicht sachgemässer Durchführung von Asbestsanierungen, auch heute nicht gänzlich ausgeschlossen werden. In den USA kann bereits eine befürchtete Asbestschädigung («fear of Asbestos») einen Anspruch auf Schadenersatz begründen, ohne dass eine explizite medizinische Diagnose vorliegt.
Bei der Problematik im Zusammenhang mit Schadstoffen in Gebäuden und auf Grundstücken wird nicht ein neu aufgetauchtes Haftpflichtrisiko angesprochen. Im Gegenteil: Hier geht es meist um Risikopotenziale, die in der Zwischenzeit in weiten Kreisen bestens bekannt sind. Dass einzelne Schadstoffe und deren Auswirkungen immer wieder spezielle Beachtung finden, ist nebst der oben bereits angesprochenen verfeinerten Nachweismöglichkeit von Schäden auf eine erheblich verstärkte Sensibilisierung der Bevölkerung sowie von Umwelt- und Gesundheitsbehörden zurückzuführen. Trotz umfangreicher, bereits vorgenommener Sanierungen von schadstoffbelasteten Gebäuden und Grundstücken und ungeachtet einschlägiger Verbote, werden sich die Haftpflichtversicherer auf Grund der vielerorts noch vorhandenen und zum Teil noch nicht bekannten Schadstoffbelastungen noch während vieler Jahre mit entsprechenden Schadenersatzforderungen von betroffenen Personen konfrontiert sehen. Insofern ist hier öfters das Phänomen eines sogenannten ’Re-Emerging Risks’ zu beobachten.
Die Vernetzung von Gegenständen (Internet of Things/Industrie 4.0) nimmt stetig an Bedeutung zu. Sie zeichnet sich durch Miniaturisierung und Einbettung von Mikroelektronik in andere Gegenstände sowie durch ihre Vernetzung aus. Die Vorstellung, sich andauernd im Umfeld zahlreicher, miteinander kommunizierender Chips und Sensoren zu befinden, ruft Ängste vor etwaigen Risiken in Bezug auf die Gesundheit, aber auch bezüglich der (attackierten) Privatsphäre hervor. Dass Objekte neuerdings auch ohne Aktivierung durch den Benutzer auf ihre Umgebung reagieren, berechtigt ebenfalls zu Skepsis.
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