Miliz-Schweiz – oder: Die Bürger machen den Staat
Oliver Zimmer, ordentlicher Professor für Moderne Geschichte an der University of Oxford, spricht am «Tag der Versicherer» 2019 zur Bedeutung des Milizsystems für die Schweiz.
«Zugespitzt könnte man sagen: Im Milizsystem machen die Bürger – im Dialog mit den Berufspolitikern und Experten aus Wissenschaft und Verwaltung – den Staat. Dadurch wird das Leben, auch das alltägliche, in einem hohen Masse politisiert: nicht im Sinne von Parteipolitik; eher im Sinne der Erhebung der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit zu einem politischen Machtfaktor. Das ist – zumal in dem Masse, wie es in der Schweiz geschieht – ungewöhnlich.» Oliver Zimmer sieht das Besondere am Milizsystem in der engen Verzahnung von Zivilgesellschaft und Staat.
Oliver Zimmer ist Professor für Moderne Geschichte an der University of Oxford
Und doch: Das Schweizer Milizsystem steht seit einiger Zeit unter Druck. Gemäss Oliver Zimmer bedeutet diese Entwicklung jedoch nicht, dass das Milizsystem seinen Zenit überschritten hat. «Ein Land, das seine Bürger über die aktive Teilnahme am Staatsaufbau in den Zustand der Mündigkeit versetzt, hat auch im Zeitalter der Globalisierung viele Stärken aufzuweisen.» In seiner Rede hebt der Schweizer Historiker vier Stärken des Milizsystems hervor.
- Dazu zählt er die systemkritische Grundhaltung der Schweizer: Eine lebendige Demokratie lebt von kritischen Bürgern.
- Eine zweite Stärke des Milizsystems besteht in der Betonung des Ortsprinzips. Damit meint er die grosse Autonomie von Gemeinden und Kantonen, die es uns in der Schweiz ermöglicht, auf die verschiedenen Lebenslagen der Menschen einzugehen.
- Verschiedene Lebenslagen gibt es jedoch nicht nur aufgrund von Stadt-Land-Unterschieden, sondern auch bezüglich der Denkhaltung. Das Milizsystem zwingt uns, immer wieder aus den eigenen «Echo-Kammern» auszubrechen.
- Das führt dazu, dass wir immer in Alternativen denken müssen.
Oliver Zimmer schliesst seine Rede mit einem Aufruf, die Krise des Milizsystems ernst zu nehmen und für seinen Weiterbestand zu kämpfen: «Das Milizsystem politisiert die Menschen. Das ist an sich weder populistisch noch rückständig. Ich würde es eher liberal-demokratisch nennen.» Und zum Schluss: «Denn das Milizsystem hält für seine Bürger eine ständige Botschaft bereit. Sie lautet: Diese Art von Staatlichkeit gibt es genau so lange, wie ihr, die Bürgerinnen und Bürger, euch dazu bekennt. Sollte sich dieses Bekenntnis vor lauter Beten für die EU schon bald in Luft auflösen, dann ist es mit dem Bürgerstaat vorbei.»