Nicht alles ist versicherbar
Der Phantasie sind praktisch keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, aufzuzählen, was alles versichert werden kann. Warum aber gibt es immer noch Dinge, die sich nicht oder nur schwer versichern lassen, selbst wenn wir dies wollten?
Einst ermöglichten Sachversicherungen den globalen Handel über die Schifffahrt, später wurden materielle Güter von Einzelpersonen versichert; im 19. Jahrhundert, als man so kühn war, die nüchternen ökonomischen Kriterien auf das menschliche Leben zu übertragen, konnten selbst Lebensversicherungen aufgesetzt werden. Im Zuge der Industrialisierung war das Versicherungsprinzip einer der grössten sozialen Fortschritte, von dem man sich eine neue Form der Sozialhilfe versprach, was denn auch der Fall war. Immer ging es im stets sich weiterentwickelnden Versicherungswesen darum, individuelle Schicksale durch ein darauf zugeschnittenes Kollektiv abzufedern. Das Instrument der statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnung ermöglichte gleichsam die Rationalisierung der Solidarität.
Heute sind Einzel- und Sozialversicherungen aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Ob Güter, Sachanlagen oder Wertgegenstände, Krankheit, Unfall oder Invalidität, Haustiere, Fahrzeuge und Reisen, Rechtsfälle, Ernteausfälle und Missgeschicke aller Art: Der Phantasie sind praktisch keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, aufzuzählen, was alles versichert werden kann. Warum ist uns das so wichtig? Und warum gibt es immer noch Dinge, die sich nicht oder nur schwer versichern lassen, selbst wenn wir dies wollten?
Versicherungen schaffen Sicherheit
Versicherungen sind zum einen dazu da, Sicherheit zu schaffen, wo keine ist. Ich kann zum Beispiel davon ausgehen, dass mir das, was ich besitze, nur bedingt abhandenkommen kann, denn im Falle des Falles wird es ersetzt. Hat ein Kotflügel meines Autos eine Delle, erhält es einen neuen. So weit, so funktional. Was aber ist, wenn eingebrochen wird und Erbstücke gestohlen werden? Zwar lässt sich ihr Wert in Zahlen beziffern und durch Geld ersetzen; deren innerer Wert, die Erinnerung an die Eltern, Grosseltern und Vorfahren, die sie ausstrahlten, ist jedoch für immer verloren. Zum andern sollen Versicherungen Gefahren mindern – oder zumindest deren Folgen, da die Gefahren selbst nicht abzuwenden sind. Gerade Sozialversicherungen sorgen dafür, dass individuelle Wechselfälle des Lebens wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit immerhin finanziell aufgefangen werden. Aber auch hier gilt: Sie minimieren zwar die Sorge um den Lebensunterhalt; ein zufriedenes Leben indes garantieren sie nicht.
Schliesslich sind Versicherungen dazu da, Risiken zu minimieren, um sie dennoch einzugehen. Unternehmen sind Abenteuer mit grossen Zielen: Kolumbus wollte mit seiner Expedition «Amerika» entdecken, ein heutiges Start-up will mit seinem Algorithmus die Welt erobern. Eine Versicherung kann den Ausschlag geben dafür, dass sich jemand tatsächlich auf dieses Abenteuer einlässt. Keine Versicherung aber kann garantieren, dass das Unternehmen auch Erfolg hat, zu vielfältig können die Umstände und Überraschungen sein. Zwar gibt es gewisse Entschädigungen bei Misserfolg – etwa die staatliche Exportrisikogarantie; aber auch diese setzt unvorhersehbare oder nicht beeinflussbare Handlungen Dritter voraus. Selbst wenn zum Erfolg oft Glück gehört: Ohne Zielstrebigkeit und harte Arbeit kommt man selten ans Ziel. Was also aus eigener Kraft geleistet werden kann und muss, lässt sich nicht auf ein Kollektiv abwälzen. Diese Beispiele zeigen: Versicherbar sind objektive Sachwerte, berechenbare Entschädigungen und kalkulierbare Risiken. Nicht versichern lassen sich hingegen intrinsische Werte, eigene Gefühlslagen und überhaupt die Bewältigung des eigenen Lebens.
Die Sicherheit lässt sich nicht versichern
Vermutlich liegt hier die grösste Herausforderung unserer wohlhabenden Gesellschaft: einzusehen, dass dieser Wohlstand samt Wohlgefühl, das damit einhergeht, sich nicht versichern lässt. Wir können unsere Sicherheit nicht versichern. Wir müssen, so schwer uns diese Vorstellung fallen mag, selbst damit fertig werden, dass Unsicherheiten bleiben, die nur wir allein und niemand sonst bewältigen kann. Was bedeutet das für unser Leben und unsere Gesellschaft? Zwar mag es objektive Gründe dafür geben, warum wir uns – um ein aktuelles Beispiel zu nennen – gegen eine Pandemie nur schwer versichern können: Sie ist weder eindeutig lokalisierbar noch durch ihre unterschiedlichen Folgen klar kalkulierbar. Selbst wenn jedoch eine Lösung hierfür gefunden würde: Wie ein Mensch negative Ereignisse und deren Folgen im Leben bewältigt, kann eine Versicherung nur schwer beeinflussen.
Während die einen verzweifeln und ohne Unterstützungsleistung oder zumindest die Aussicht darauf kaum mehr handlungsfähig sind, orientieren sich andere neu, packen zu und satteln um. Warum dies den einen gelingt und den anderen nicht, soll nicht bewertet werden, zu vielfältig sind auch hier die Gründe. Es zeigt jedoch, dass nicht alle Menschen gleichermassen auf Unterstützung angewiesen sind, wenn sie sich in schwierigen Lagen befinden. Daraus wiederum ergibt sich, dass auch nicht alle bereit sind, für andere vollumfänglich vorzusorgen. Jede Abfederung eines individuellen Schicksals erfordert eine kollektive Solidarität. Und Solidarität wird seit jeher wechselseitig verstanden: Ich kann mich auf die andern verlassen, weil auch sie sich im Notfall auf mich verlassen können.
Das Leben bleibt ein Wagnis
Wo sich also kein Schicksalskollektiv vorfindet oder erzeugen lässt, kann auch keine Versicherung wirksam werden. Dass bedeutet am Ende: Wie wir unser Leben leben, haben alleine wir in der Hand. Es ist ein bisschen so wie mit der Liebe: Wo sie hinfällt, können wir nicht beeinflussen. Dass aus ihr jedoch eine glückliche, im besten Falle lebenslange Beziehung wird, erfordert Aufmerksamkeit, Anstrengung und Umsicht.
Die Stoiker hatten sich darin geübt, am Schicksal nicht zu verzweifeln, sondern das Leben so zu nehmen, wie es ist – will heissen: anzunehmen, was sich nicht ändern lässt. Die Epikureer verstanden es, das Leben zu geniessen, ihm auch in schlechten Zeiten Gutes abzugewinnen und jeden Tag als Geschenk zu sehen. Von ihnen können wir noch heute lernen. Denn selbst wenn wir Sicherheit wünschen und diese am liebsten noch versichert hätten: Am Ende bleibt das Leben ein Wagnis – und es zu bewältigen unsere ureigenste Aufgabe. Und das ist auch gut so, denn darin liegt der Sinn des Lebens.