
In einem Punkt sind sich (fast) alle einig: In der Altersvorsorge besteht dringender Handlungsbedarf. Wie die Reformen jedoch konkret ausgestaltet und umgesetzt werden sollen, daran scheiden sich die Geister. Warum sich unser Land mit der Stabilisierung beziehungsweise der Modernisierung der Altersvorsorge so schwer tut und wie mögliche Lösungsansätze aussehen könnten, erläutert Christoph Schaltegger, ordentlicher Professor und Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern.
Interview: Daniel Schriber
Mit Sicherheit. Wir wissen zwar noch nicht, wie schwerwiegend die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise sein werden, der Arbeitsmarkt wird aber so oder so betroffen sein. Eine höhere Arbeitslosigkeit hat zur Folge, dass die Lohnbeiträge sinken – und das wiederum wirkt sich negativ auf unsere Altersvorsorge aus.
Nein, tut es nicht. Der Handlungsbedarf im Bereich der Altersvorsorge ist längst ausgewiesen. Schon seit Mitte der 1990er-Jahre ist das Thema immer wieder Gegenstand des politischen Prozesses. Besonders die finanzielle Lage der AHV verschlechtert sich zusehends.

Gehört im Ranking der NZZ zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz: Christoph Schaltegger.
Genau. Die demografischen Ursachen dieser Entwicklung sind bekannt: tiefe Geburtenrate und steigende Lebenserwartung. Die Herausforderung akzentuiert sich in den nächsten Jahren, wenn die sogenannten Babyboomer das Rentenalter erreichen. Das Ungleichgewicht zwischen Rentnern und Erwerbstätigen wird sukzessive ansteigen.
Wir sind heute nicht nur gesünder, sondern leben auch immer länger. Das ist erfreulich, führt aber auch dazu, dass wir unser heutiges Leistungsniveau auf lange Sicht nicht halten können. Entweder müssen wir die Leistungen kürzen oder an der Finanzierungsseite etwas ändern – oder eine Kombination von beidem.
Die Leute in der Schweiz sind gut informiert und realistisch genug, um zu verstehen, dass nur schon das Beibehalten des Leistungsniveaus langfristig immer teurer wird. Dass die Politik bis jetzt keine passende Lösung präsentieren konnte, scheint auf den ersten Blick eigenartig – mich überrascht das jedoch nicht.
«Rentenpolitik wirkt generationenübergreifend, wird aber im üblichen ‹Kuhhandel› innerhalb der heutigen Generationen betrieben.»
Ökonomen sprechen in diesem Fall von Zeitinkonsistenz. Rentenpolitik wirkt generationenübergreifend, wird aber im üblichen «Kuhhandel» innerhalb der heutigen Generationen betrieben. Am Entscheidungstisch sitzen nur die heutigen Generationen. Nachhaltige und generationenübergreifend ausgewogene Lösungen haben es daher im tagespolitischen Geschäft äusserst schwer. Lieber schiebt man die Finanzierung der Sozialversicherungen auf und belastet zukünftige Steuer- beziehungsweise Beitragszahler.
Das ist das eine Problem. Das andere ist der Abnützungskrieg, der im Zusammenhang mit der Altersvorsorge herrscht. Dies sehen wir insbesondere bei der AHV, die sich unter anderem durch eine starke Umverteilungswirkung charakterisiert. Es gibt somit Leute, die mehr in das System einzahlen als sie letztlich zurückbekommen – und umgekehrt. Wenn nun über Reformen der AHV diskutiert wird, hoffen natürlich beide Seiten, dass die andere Seite zukünftig einen grösseren Teil der Last übernimmt. Mit dieser Einstellung werden wir jedoch noch lange auf eine erfolgreiche Reform warten. Wir alle müssen bereit sein, etwas zur zukünftigen Lösung beizutragen.
Wenn eine Gesellschaft das Rentenalter 64/65 für sakrosankt erklärt, so ist das zwar grundsätzlich möglich, aber meiner Meinung nach nicht sinnvoll. Ein solcher Entscheid müsste allein durch zusätzliche Finanzierungsaufwendungen realisiert werden – nur so wäre die demografische Entwicklung aufzufangen. Ziel müsste es aber meiner Ansicht nach sein, eine Opfersymmetrie zu finden. Das bedeutet, dass wir sowohl bei der Leistung als auch bei der Finanzierung gewisse Anpassungen vornehmen müssen. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Beim gegenwärtigen demografischen Trend ist es notwendig, dass auch das Rentenalter angehoben wird.
Davon bin ich überzeugt. Die älteren Arbeitnehmenden sind äusserst gut in den Arbeitsmarkt integriert. Die Arbeitsmarktbeteiligung der älteren Bevölkerung steigt seit Jahren an und ist im internationalen Vergleich sehr hoch. In den nächsten Jahren wird die demografische Entwicklung zudem zu einer spürbaren Verknappung des Arbeitskräfteangebots führen, was der Nachfrage nach älteren Arbeitskräften zusätzlichen Schub verleihen dürfte.
Diese Sorge ist verständlich, aber unbegründet. Dank steigendem Wohlstand und medizinischem Fortschritt ist die Lebenserwartung in der Schweiz im Laufe des 20. Jahrhunderts stark gestiegen. Die Menschen werden aber erfreulicherweise nicht nur immer älter, sondern bleiben auch länger gesund. Das Alter 65 stellt keine Schwelle dar, an der gesundheitliche Probleme bemerkbar zunehmen würden.
«Es spricht viel dafür, den Renteneintritt flexibel zu gestalten.»
Es spricht viel dafür, den Renteneintritt flexibel zu gestalten. Möglicherweise müssen einfach die Profile auf dem Arbeitsmarkt angepasst werden.
Während die physische und die kognitive Leistungsfähigkeit ihren Höhepunkt schon in relativ jungen Jahren erreichen, steigen Faktoren wie Erfahrungswissen, Führungskompetenz und Beurteilungsvermögen über die Lebenszeit an. Anders formuliert: Jüngere sind flink, flexibel und methodisch up to date. Die älteren Arbeitnehmenden bringen dafür mehr Erfahrungswissen mit. Auch hier gilt aber: Wenn man will, dass die Teilzeitarbeit über das offizielle Rentenalter hinaus attraktiv bleibt, muss man entsprechende Anreize setzen.
Beide Systeme haben Vor- und Nachteile. Wenn man die Systeme sauber trennt, kann man die spezifischen Eigenheiten sauber darlegen und ausbalancieren. Von einer Vermischung der beiden Systeme rate ich hingegen ab: Wenn man zum Beispiel anfängt, innerhalb des Kapitaldeckungsverfahrens einen Umverteilungsmechanismus zu integrieren, führt dies zu Intransparenz. Solche Wirkungen sind auch für die politische Steuerbarkeit schwierig und enttäuschungsanfällig.
Das ist ein Problem in der Schweiz. Heute bringt man fast kein politisches Anliegen mehr ohne Gegengeschäfte durch. Das ist ein Stück weit normal, wird aber dann zum Problem, wenn dabei völlig unterschiedliche Themen miteinander vermischt werden. Solche Gegengeschäfte haben eine präjudizierende Wirkung, was dazu führt, dass künftig niemand mehr bereit ist, einen Entscheid mitzutragen, ohne selbst ein Zückerchen dafür zu erhalten. Dadurch droht ein politischer «Bazar», der nicht mehr seriös ist und auf lange Sicht die Politik blockiert.
Christoph Schaltegger ist ordentlicher Professor für Politische Ökonomie und Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Luzern. Darüber hinaus lehrt er auch an der Universität St. Gallen zum Thema öffentliche Finanzen. Schaltegger ist im diesjährigen Ranking der NZZ auf Platz drei der einflussreichsten Ökonomen der Schweiz. Er gehört zu den wenigen Wirtschaftsprofessoren, die regelmässig Stellung zu konkreten politischen Sachfragen nehmen.
Aktuelle Lage
Der Bundesrat hat eine Reform der Altersvorsorge in zwei separaten Reformen beschlossen.
Entwicklung
2019: Annahme des Bundesgesetzes über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung in der Volksabstimmung («AHV-STAF»)
2018: Scheitern der Reform «Altersvorsorge 2020» vor dem Volk
2010: Ablehnung der Senkung des BVG-Mindestumwandlungssatzes
2010: Scheitern der 11. AHV-Revision (zweiter Versuch) im Parlament
2005: Anhebung des Rentenalters für Frauen auf 64
2004: Scheitern der 11. AHV-Revision (erster Versuch) vor dem Volk
2001: Anhebung des Rentenalters der Frauen auf 63
1999: Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt für die AHV
1993: Verfassungsgrundlage für 1 MwSt.-Prozent für die AHV
1985: Inkrafttreten Obligatorium der Beruflichen Vorsorge (BVG)
1972: Verankerung des Dreisäulensystems in der Bundesverfassung
1948: Inkrafttreten Bundesgesetz über die AHV