«Der täg­li­che Wahn­sinn»: Füh­rungs­kräf­te sind mit psy­chisch Kran­ken oft über­for­dert

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Studie «Der tägliche Wahnsinn»

Psychische Behinderungen sind meist unsichtbar und daher für Vorgesetze schwierig einzuschätzen. In den meisten Fällen besteht zudem die Angst, es anzusprechen. «Man spricht viel über Stress, aber selten über psychische Störungen», sagt Niklas Baer, Psychologe und Studienautor. 1542 Führungskräfte wurden in der Deutschschweiz befragt. Über 80 Prozent erinnerten sich an Erlebnisse mit einem betroffenen Mitarbeiter. Gleichzeitig sind weniger als 30 Prozent jemals geschult worden, wie sie solche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führen können. Rund 40 Prozent der Befragten erlebte die Situation für sich selbst sehr belastend. Die psychischen Probleme, die in der Befragung geschildert wurden, sind oft schwerwiegende und manchmal dramatisch verlaufende psychische Auffälligkeiten. Das vorherrschende Filmgenre ist deshalb laut Führungskräfte auch das Drama. 

75 Prozent aller psychischen Störungen beginnen vor dem 25. Altersjahr, also oft vor dem Eintritt ins Arbeitsleben. Ausserdem kann Arbeit nicht nur Stress verursachen als möglicher Auslöser von psychischen Problemen, sondern sie hat einen mindestens so starken stabilisierenden Effekt auf die Psyche, weil sie Identität, Selbstwert und Kontakte vermitteln kann.

Mitarbeitende mit psychischen Belastungen verlieren als Folge davon meist ihren Arbeitsplatz. In 80 Prozent aller Fälle wird laut Studie das Arbeitsverhältnis aufgelöst. Das wäre weniger der Fall, wenn die Schwierigkeiten früher und offen angesprochen würden. «Was die Chefs als Problembeginn bezeichnen, hat meistens schon eine lange Vorgeschichte und ist bereits eskaliert», sagt Niklas Baer. So reagieren sie oft erst nach einem akuten Leistungsabfall oder wenn es zu Konflikten im Team kommt.

Psychiater sind eine Hilfe – wenn sie denn einbezogen sind

Fast nie treten in den Darstellungen Akteure wie die IV-Stellen oder Krankentaggeldversicherungen auf, obwohl es häufig zu Krankschreibungen kommt. Seit 2008 bietet die Invalidenversicherung IV die Möglichkeit, psychisch kranke Mitarbeitende frühzeitig zu melden. Die IV wird von den Arbeitgebenden nach wie vor kaum als Problemlöserin wahrgenommen. Dass die IV so selten einbezogen wurde, hängt damit zusammen, dass psychische Störungen nur dann als Störungen erkannt werden, wenn sie sich in einem ganz spezifischen oder sehr befremdlichen Symptom äussern, sei es in schweren Zwängen, manischem Verhalten, offensichtlichen Denkstörungen etc.. Wenn sich die psychischen Probleme aber vor allem auf der zwischenmenschlichen Ebene in einem «schwierigen» Verhalten zeigen, werden sie als schlechter Wille ausgelegt. In diesen Fällen wird die IV entsprechend nicht kontaktiert. Auch die Personalverantwortlichen der Firmen spielen meist nur eine «Nebenrolle». Die behandelnden Psychiater der Mitarbeitenden werden als einzige externe Fachpersonen oft als wichtige Hilfe erlebt – sofern sie involviert sind, was aber selten ist: Nur in jedem fünften Fall hat der Arbeitgeber den Kontakt zum Arzt oder zur Ärztin gesucht. Es wäre darum wichtig, dass die behandelnden Mediziner viel häufiger und schneller eine «Hauptrolle» übernehmen.

Das Dilemma psychisch kranker Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

90 Prozent der Vorgesetzten wären erleichtert, wenn die Mitarbeitenden ihre psychischen Probleme offenlegen würden, und 40 Prozent wollen Angestellte nicht behalten, die ihre psychischen Schwierigkeiten erst nach der Anstellung offenlegen. Gleichzeitig würden 60 Prozent der Führungskräfte eine Person gar nicht erst anstellen, die beim Bewerbungsgespräch psychische Probleme erwähnt. Psychisch belastete Mitarbeitende

stecken also im Dilemma: Sie werden eher nicht angestellt, wenn sie sich zu Beginn outen; verschweigen sie das Problem, werden sie vielleicht später entlassen.

Seit den achtziger Jahren haben die psychischen IV-Berentungen ungefähr um das Neunfache zugenommen. Seit gut 15 Jahren unterstützen die Privatversicherer mit dem Case Management die berufliche Eingliederung. Der Schweizerische Versicherungsverband SVV bietet selbst seit mehreren Jahren dreitägige Kurse „Psychische Behinderung und Eingliederung“, u.a. mit Niklas Baer an. Die Kurse sind auf Case Manager und Versicherungsfachleute im Schadenmanagement ausgerichtet und zielen spezifisch auf den Umgang mit Personen mit psychischen Belastungen in der Eingliederung ab. Der SVV hat zudem verschiedene Fallführungsinstrumente entwickelt, die die Zusammenarbeit zwischen den involvierten Versicherten wie auch mit den behandelnden Ärzten verbessern sollen.

Empfehlungen

Ein grundlegendes Umdenken ist nötig. Dazu braucht es verbindliche Massnamen. Denkbar und zielführend wären etwa Anreize für ein stärkeres Engagement, bei psychisch kranken oder auffälligen Arbeitnehmenden viel früher den Kontakt zu den behandelnden Ärzten zu suchen oder sie möglichst früh bei der IV-Stelle zu melden. Ein Umdenken braucht es auch in der widersprüchlichen Haltung und deren Konsequenzen gegenüber psychischen Problemen im Betrieb.

Empfohlen werden Leitlinien und Schulungen, vorab für Vorgesetzte zum Umgang mit psychisch auffälligen Mitarbeitenden oder für Hausärzte für das Ausstellen von Arbeitszeugnissen, die stärker auf die konkrete Arbeitssituation ausgerichtet sind. Es bräuchte auch ein verbindliches Prozedere punkto Zusammenarbeit von Ärzten, Versicherungen und Arbeitgebern. Der Umgang mit Patientinnen und Patienten mit Arbeitsproblemen sollte in die Fort- und Weiterbildung von Hausärzten und Psychiaterinnen einfliessen.

Die Forschungsresultate und die Empfehlungen im Detail sind in der Zusammenfassung sowie im Schlussbericht der Studie «Der tägliche Wahnsinn – Psychisch auffällige Mitarbeiter und ihr Problemverlauf aus Sicht von Deutschschweizer Führungskräften» nachzulesen.

Auf der Website der Hochschule Luzern können Sie zudem die komplette Studie herunterladen.