«Die Versicherer tragen volkswirtschaftliche Verantwortung»
Das Geschäft der Privatversicherer hat sich im Jahr 2018 erfreulich entwickelt. Das Prämienvolumen ist sowohl im Leben- als auch im Schadengeschäft gegenüber dem Vorjahr angestiegen. Mit einer Bruttowertschöpfung von fast 30 Milliarden Franken machen die Versicherer mittlerweile knapp die Hälfte des Bruttoinlandproduktes des Finanzsektors aus. Rolf Dörig und Thomas Helbling über die Gründe des guten Geschäftsganges – und wo sie dennoch dringenden Handlungsbedarf sehen.
Beitrag aus dem Jahresmagazin View
Trotz gutem Geschäftsergebnis der Privatversicherer kritisieren Sie die schwierigen Rahmenbedingungen. Wozu braucht es überhaupt bessere Bedingungen?
Thomas Helbling: Auch im Jahr 2018 zeigte sich die Versicherungsbranche stabil und leistungsfähig. Das ist erfreulich. Denn die Versicherer tragen auch eine volkswirtschaftliche Verantwortung: Mit ihren Leistungen bewahren sie einzelne Menschen vor sozialer Not und Betriebe vor wirtschaftlichem Ruin. Zudem nehmen sie eine wichtige Rolle in der Altersvorsorge ein. Auf den ersten Blick also kaum ein Grund zur Klage.
Rolf Dörig: Und doch fragen wir uns: Was braucht unsere Branche, um dieser Verantwortung auch in Zukunft gerecht werden zu können? Alle wissen um die tiefen Zinsen. Diese machen es heute nahezu unmöglich, die politisch festgelegten Leistungen in der zweiten Säule nachhaltig zu erbringen. Das Sparprinzip wird zunehmend durch ein schleichend eingeführtes Umlageverfahren unterwandert. Die Jüngeren zahlen die Leistungen für die Älteren. Das ist nicht die Idee in der beruflichen Vorsorge.
Thomas Helbling: Auf diese Situation müssen wir unablässig hinweisen, soll unser bewährtes Dreisäulensystem auch in Zukunft Bestand haben. Eine Folge der herausfordernden Rahmenbedingungen war denn auch im vergangenen Jahr, dass sich trotz grosser Marktnachfrage mit der AXA ein bedeutender Anbieter aus dem Vollversicherungsgeschäft zurückgezogen hat.
Lebensversicherung ist ein langfristiges Geschäft. Lässt sich die Umverteilung nicht über die Jahre oder Jahrzehnte wieder ausgleichen?
Thomas Helbling: Gerade weil es sich um ein langfristiges Geschäft handelt, ist es wichtig, frühzeitig die Weichen zu stellen. Wer heute in die zweite Säule einzahlt, der will Sicherheit, dass er die Leistung in 20, 30 oder mehr Jahren auch wirklich erhält.
Rolf Dörig: Natürlich kann sich die Zinssituation in Zukunft wieder ändern. Nur wissen wir nicht, ob und wann. Niemand hätte gedacht, dass wir jahrelang mit Negativzinsen konfrontiert sein würden. Es wäre fahrlässig, jetzt darauf zu hoffen, dass eine baldige Besserung der Zinssituation die heutige Situation ausgleichen würde.
Sie kritisieren Mindestzinssatz und Umwandlungssatz als zu hoch. Gefährdet die Forderung nach einem Leistungsabbau nicht das Vertrauen in eine existenzsichernde Altersvorsorge?
Rolf Dörig: Im Gegenteil. Wenn wir Leistungen versprechen, die nicht finanzierbar sind, spielen wir mit dem Vertrauen.
Was braucht es, um das System der Altersvorsorge langfristig zu sichern?
Rolf Dörig: Eine Entpolitisierung. Mindestzinssatz und Umwandlungssatz müssen an die Realität angepasst werden. Das heisst, sie müssen sinken. Und auch das Rentenalter hat sich an der stetig steigenden Lebenserwartung zu orientieren. Ein Rentenalter 65 für Frauen wäre ein erster Schritt in diese Richtung.
Auch das Schadengeschäft ist gewachsen. Was waren die Treiber?
Thomas Helbling: Insgesamt resultierte ein Plus von 2,2 Prozent. Die Sachversicherungen legten 0,9 Prozent zu. Treiber waren das allgemeine Wirtschaftswachstum, Bauinvestitionen und die zunehmende Kaufkraft. Bei den Personenversicherungen stiegen die Prämieneinnahmen um 3,4 Prozent. Dazu beigetragen haben eine ungebrochen hohe Nachfrage nach Zusatzversicherungen im Bereich der Kranken- und der Unfallversicherung sowie höhere Tarife aufgrund der steigenden Kosten im Gesundheitswesen.
Im Rahmen der Revision des Versicherungsvertragsgesetzes wurden der Versicherungsverband und das Parlament hart kritisiert, das Gesetz würde nur die Interessen der Versicherer bedienen. Verliert die Branche ihre Kunden aus dem Fokus?
Thomas Helbling: Die Branche wäre nicht erfolgreich, wenn sie ihre Kundinnen und Kunden nicht in den Mittelpunkt stellen würde. Man darf nicht vergessen: Die Versicherer zahlen täglich nahezu 130 Mio. Franken an Leistungen aus.
Rolf Dörig: Es gehört zum politischen Prozess, dass wir unsere Argumente einbringen. Zentral für uns ist, dass das gut funktionierende Versicherungsgeschäft nicht durch unnötige oder unverhältnismässige Regulierung behindert wird, die für unsere Kundinnen und Kunden nur Kosten nach sich zieht, aber kaum Mehrwert bietet.
Das Stimmvolk hat sich im vergangenen Herbst für Sozialdetektive ausgesprochen. Hat Sie das deutliche Resultat überrascht?
Rolf Dörig: Sozialversicherungen geniessen hohes Vertrauen. Schweizerinnen und Schweizer wollen aber auch eine konsequente Missbrauchsbekämpfung. Diese gesunde Grundhaltung des Stimmvolks hat sich im klaren Verdikt gespiegelt.
Die Politik hat bei dieser Vorlage sehr schnell gehandelt. Wo hätten Sie sich ein ähnliches Tempo erhofft?
Thomas Helbling: Der Gesetzgeber konnte sich bei dieser Revision auf eine bewährte Praxis stützen und damit ausserordentlich rasch Rechtssicherheit schaffen.
Rolf Dörig: Demokratische Prozesse brauchen Zeit. Bei der Altersvorsorge besteht jedoch schon seit Jahren dringender und zwingender Handlungsbedarf. Die Politik muss hier endlich vorwärts machen und zum Schutz der künftigen Generationen nachhaltige Lösungen auf den Tisch legen.
Der SVV erarbeitet eine neue Strategie. Können Sie schon etwas zu den Schwerpunkten sagen?
Thomas Helbling: Wichtig für uns ist, dass wir uns auf Themen ausrichten, die für unsere Branche zukünftig entscheidend sein werden, wie etwa die Nachhaltigkeit, die Innovationsfähigkeit und die Rolle als Arbeitgeber in einer veränderten Berufswelt.
Die Verbandsorganisation wurde im Jahr 2018 angepasst. Hat sich die neue Struktur bewährt?
Rolf Dörig: Der Verband war schon zuvor gut aufgestellt. Mit der neuen Struktur wollen wir mit unseren bewährten Milizgremien einerseits noch agiler werden und andererseits zusätzliche Schwerpunkte setzen, etwa in der Bildungs- und Arbeitgeberpolitik. Wir können dabei auf das ausserordentliche Engagement unserer Mitgliedfirmen und die professionelle Unterstützung durch unsere Geschäftsstelle zählen.