Die Tech­no­lo­gie ist wei­ter als die An­wen­dung

Jahresbericht

Mit neuen Technologien wie Chatbots erhöhen die Versicherer den Kundennutzen. So eigenständig Chatbots heute schon Kundenanliegen bearbeiten, sie bleiben vorerst eine Ergänzung und sind kein Ersatz für den Menschen. 

Beitrag aus dem Jahresmagazin View

Jederzeit den gewünschten Film streamen oder um Mitternacht online Kleider shoppen: Die Digitalisierung hat Kundenanliegen und Gewohnheiten unserer Gesellschaft verändert. Individualisierte Angebote und eine erhöhte Verfügbarkeit gehören dazu. In dieser Wirklichkeit bewegen sich auch die Versicherer. Sie nutzen schon heute neue Technologien, um die Kundenanliegen optimal zu bedienen und sich auf die Anforderungen von morgen vorzubereiten. Chatbots sind eine Möglichkeit, mit Automatisierung die Erreichbarkeit zu erhöhen und die Reaktionszeit zu verkürzen. Die Beispiele aus der Branche zeigen, wie damit der Kundennutzen erhöht wird. Dies gelingt, wenn hierzu die neue Technologie nicht isoliert betrachtet wird.  

Schnelle Abwicklung

Dienstagnacht, 23.17 Uhr, Sie wollen nach Hause fahren, doch das Fahrrad steht nicht, wo es stehen sollte: gestohlen. Nach dem ersten Ärger möchten Sie vor allem den Schaden möglichst unkompliziert erledigt haben. Und am liebsten sofort. Helvetia Versicherungen hat 2017 Chatbots für Schadenmeldungen von Velos und Abschlüsse von Hausratversicherungen getestet. «Mit dem Schaden-Bot kann eine Kundin oder ein Kunde den Diebstahl jederzeit in 90 Sekunden regeln», erklärt Martin Tschopp, Leiter Unternehmensentwicklung von Helvetia. «Wir waren überrascht, wie schnell die Chatbots von unseren Kundinnen und Kunden aufgenommen wurden – ohne negative Rückmeldungen.» Für sie steht die schnelle Abwicklung und die Erreichbarkeit im Vordergrund. «Der Prozess ist vorerst auf einfache Kundenanliegen ausgerichtet.»

Hohe Akzeptanz

Neue Kommunikationskanäle, die Mehrwert bieten, kommen an. Die Versicherer in der Schweiz testen und nutzen die Möglichkeiten der neuen Technologien. Auch die Axa nutzt Chatbots. «Wir hatten sehr positive Rückmeldungen», sagt Dominic Wuffli, Head Digital Experience bei Axa. Der Versicherer testete einen Chatbot für Auto-Glasschäden. Ein Grossteil der Fälle konnte direkt mit dem Chatbot erledigt werden. Bei einem Chatbot kommuniziert der Kunde in erster Linie mit einer Computersoftware. Diese erkennt die Frage und gibt die entsprechende Antwort oder löst eine Aktion aus. Eine Rückmeldung, dass ein Kunde nicht mit einer Software kommunizieren möchte, hat die Axa nicht erhalten. «Allerdings haben wir unseren Kundinnen und Kunden zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit gegeben, den Kanal zu wechseln.» Menschen bleiben auch bei Axa involviert. 

Dein Motivator

Auch der Krankenversicherer CSS setzt auf Chatbots. «Wir haben einen Chatbot für übergewichtige Kinder getestet», sagt Matthias Heuberger, Mitglied der Direktion. Dieser interagiert im Durchschnitt acht Mal pro Tag mit den Kindern, motiviert sie, sich zu bewegen, das Verhalten zu ändern. Den Kindern gefiel es, dass der Chatbot sich jeden Morgen bei ihnen meldete. «Nach einer Woche kommunizierten die meisten lieber mit dem Chatbot als mit dem Arzt». Eine Weiterentwicklung wäre eine Verknüpfung des Chatbots mit Virtual Reality. «Der Chatbot fordert sie nicht nur zu mehr Bewegung auf, er zeigt ihnen auch noch gleich die Übung», so Heuberger. Denn oft ist die korrekte Ausführung einer Übung eine Herausforderung. So motiviert der Chatbot und gibt Echtzeit-Feedback. Einen Prototypen, der Versicherte bei der Physiotherapie unterstützt, hat die CSS am Digitaltag 2018 präsentiert. Mit Myguide (einem Helfer bei Krankheitssymptomen) hat die CSS zudem bereits einen Chatbot im Einsatz, der Versicherte berät. «Neben der Erreichbarkeit rund um die Uhr ist es auch der niederschwellige Zugang, der Kundinnen und Kunden anspricht», so Heuberger. 

Mia hilft

Diese Erfahrung hat auch Generali Schweiz gemacht. Im April 2018 hat sie die Innovationsgarage gestartet. Die Garage fungiert als Symbol für Innovationskraft und als physischer Ort, an dem der Versicherer nach neuen Lösungen sucht, unter anderem zusammen mit Start-ups. Ein Ergebnis dieser Initiative ist Mia. «Sie ist eine virtuelle Assistentin, ein Chatbot, basierend auf künstlicher Intelligenz», sagt Dr. Samyr Mezzour, Head of Innovation Garage bei Generali. Mia organisiert Meetings, findet Termine und sendet Einladungen sowohl an Generali Mitarbeitende als auch an Externe. «Am Anfang war sie etwas ungeschickt», sagt Mezzour. Entsprechend wurde sie weiterentwickelt. Heute gibt es schon Feedback, wie freundlich Mia sei. «Wir haben mit Mia intern eine grosse Nachfrage geschaffen». Auch für externe Kommunikation setzt Generali auf künstliche Intelligenz in der Sprach-Analytik. «Wir sind daran, unsere Callcenter-Telefonate auszuwerten. Ziel ist es, eine digitale Lösung zu finden, die sowohl das Anliegen als auch den Gemütszustand unserer Versicherten erkennt, um deren Bedürfnisse optimal zu befriedigen.» 

Kommunikation der Zukunft

Die ersten Chatbots funktionierten relativ einfach. Sie erkannten Schlüsselbegriffe und reagierten auf diese. Mit den Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz werden Chatbots zu immer leistungsstärkeren Schnittstellen zwischen Mensch und Dienstleistung. Die Mobiliar nutzt künstliche Intelligenz für verschiedene Anwendungsfälle und sieht dabei grosses Potenzial. Unstrukturierte Daten wie Freitexte sollen automatisiert verarbeitet werden. «Wir wollen bei der Schadenfallklassifizierung den Freitext besser verstehen, was ist positiv, was negativ oder welche Themen werden angesprochen», sagt Mirco Rossi, Leiter Cognitive Computing bei der Mobiliar. Chatbots hat die Mobiliar getestet, sie setzt aktuell aber keine ein. «Unsere Strategie ist es, zuerst intern die notwendigen Entwicklungen voranzutreiben und erst später auf die Kunden zuzugehen.» Mirco Rossi ist überzeugt, dass die Sprache immer der präferierte Weg der Kommunikation für Kundinnen und Kunden bleibt. Ob es Chatbots oder eine Weiterentwicklung sein wird, werde sich zeigen. «Die Stossrichtung wird sein, mit natürlicher Sprache zu kommunizieren.»

Agilität gefragt

«Der Chatbot als Innovation ist wahrscheinlich schon überholt», sagt Matthias Heuberger und fügt an, «aber ein richtig guter Chatbot ist noch immer innovativ.» Auch Pietro Carnevale, Director Strategy & Innovation bei Generali, ist überzeugt, dass Chatbots ihre Leistungsfähigkeit noch nicht erreicht haben. Die Bots lernen schnell. «Die Technologie ist zudem heute rund zwei Jahre weiter, als die Markteinführungen», schätzt Carnevale. Er sieht noch Potenzial. Sie erhöhen den Mehrwert für Kundinnen und Kunden. In diesem Punkt sind sich alle einig: Im Zentrum steht nicht die Technologie, sondern der Kundennutzen. Was wollen Kundin und Kunde, wie kann ihrem Anliegen ideal entsprochen werden, wo brauchen sie Unterstützung?

Und auch wenn neue Technologien das Geschäft verändern und neue Konkurrenten in den Markt drängen, haben die traditionellen Versicherer einen Vorteil. «Wir haben die Kundenbeziehungen. Technologien, die bei Versicherungen angewendet werden, sind kopierbar», sagt Heuberger. Und sie sind eine Chance, die es zu nutzen gilt. Dabei wird nicht die Technologie alleine entscheidend sein. Das Zusammenspiel mit dem Menschen ist ausschlaggebend. Denn in den nächsten Jahren werden Programme wie Chatbots Menschen nicht ersetzen, sondern ergänzen. «Es ist klar, für komplexe Fälle funktioniert ein Chatbot heute nicht», so Tschopp. «Chatsbots sollen unsere Mitarbeitenden ganz klar entlasten, damit sich diese anderen Kundenanliegen annehmen können», sagt auch Dominic Wuffli von Axa.