So­li­da­ri­tät auf dem Prüf­stand

Kontext

Solidarität stärkt Gesellschaft und Staat. Sie ist auch die Grundlage des Versicherungswesens und dessen Mechanik zur Risikominimierung in einer Gemeinschaft. Doch Digitalisierung und behördliche Strapazierung schaden dieser Maxime.

Von Thomas Helbling, Direktor des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV

Solidarität hat viele Gesichter: der barmherzige Samariter, der sich zum ausgeraubten und verletzten Opfer niederbeugt und ihm Hilfe leistet; der heilige Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler teilt, der vor ihm kniet; oder der ständige Fluss privater und freiwilliger Spenden, der heute die Verschonten mit den Versehrten, die Privilegierten mit den Benachteiligten, die Gesunden mit den Kranken verbindet. Viele Menschen setzen sich Tag für Tag ehrenamtlich und unentgeltlich für andere ein. Solidarität entsteht aus Nähe und Mitgefühl und zeichnet sich dadurch aus, bedingungslos zu sein. Sie stärkt den Zusammenhalt von Familien, Gemeinschaften und ganzen Gesellschaften und macht diese widerstandsfähig gegen Ungemach.

SVV-Direktor Thomas Helbling

Trotz ihrer Erfolgsgeschichte ist die Solidarität kein Selbstläufer: Thomas Helbling.

Solidarität ist aber auch ein staatsbildendes Prinzip: Unus pro omnibus, omnes pro uno – einer für alle, alle für einen. So steht es hoch oben in der Bundeshauskuppel, im Kranz der Kantonswappen, gewunden um das weisse Kreuz auf rotem Grund. Die Kantone schliessen sich im Bundesstaat zusammen. So stärken sie sich gegenseitig und schaffen zusammen die Grundlage für Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlstand in ihrer Konföderation.

Für die enorme Kraft dieser Ausrichtung auf das Gemeinwohl steht auch das mythische Beispiel Arnolds von Winkelried. Der Überlieferung nach opferte er sich auf dem Schlachtfeld von Sempach für alle anderen. Im Gegenzug vertraute er seine hinterlassene Familie ihrer Fürsorge an. Wesentlich für die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls im jungen Bundesstaat waren auch die vielen Zeichen gesamtschweizerischer Solidarität mit den Opfern von Natur- und anderen Katastrophen. So wurden nach dem Brand von Glarus und den alpinen Hochwassern Mitte des 19. Jahrhunderts gemäss heutigem Wert jeweils über 300 Millionen Franken gesammelt; das ist mehr als doppelt so viel wie für die Opfer der Tsunami-Katastrophe von 2004.

Solidarität im Versicherungswesen

Mit der Gründung des modernen Bundesstaates waren auch die territorialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Aufbau des privaten Versicherungswesens gegeben, so wie wir es heute kennen. Der entscheidende Antrieb entstand durch die Industrialisierung im ganzen Land und der dadurch geschaffenen neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten. Im Schadensfall wollte man nun nicht mehr auf sich allein gestellt und von der unberechenbaren Hilfe und der Grosszügigkeit anderer abhängig sein. Gegen Bezahlung einer Prämie konnte man sich neu planbar und in einem zuverlässig organisierten Rahmen gegen die Risiken des Lebens absichern. Damals wie jetzt spielte die Solidarität dabei eine zentrale Rolle. Denn die potenzielle Gefährdung des Einzelnen in der Risikogemeinschaft ist zwar unterschiedlich, die Prämien sind aber für alle Beteiligten gleich. Diese Disparität nehmen die Mitglieder im Versichertenkollektiv in Kauf, weil sie die Logik und die Kraft des Solidaritätsprinzips verstehen und befürworten. Dieses verlangt Opfer für andere, verspricht aber auch Abhilfe im eigenen Schadensfall.

Solidarität und soziale Sicherheit

Parallel zum Aufbau der privaten Versicherungswirtschaft blieb auch der Staat nicht untätig. Mit Blick auf den sozialen Zusammenhalt des Landes machte er sich daran, das Solidaritätsprinzip Schritt für Schritt zu institutionalisieren und mit dem Segen von Volk und Ständen zu einem obligatorischen staatlichen Netz der sozialen Sicherheit zu verknüpfen. Dabei ging und geht es im Gegensatz zum Versicherungsprinzip der privaten und freiwilligen Solidarität um mehr als den Risikoausgleich innerhalb eines Kollektivs. Vielmehr umfasst diese vom Staat begründete Volksversicherung immer auch die sozialpolitisch gewünschte Umverteilung von Reich zu Arm. Prominentestes Beispiel dafür ist die AHV.

Die unterschiedlich ausgeprägten Solidaritäten haben dabei nicht nur nebeneinander Platz; ihre Verkoppelung hat vielmehr symbiotische Wirkung, was der Erfolg des auf drei Pfeilern gründenden schweizerischen Vorsorgesystems beweist. Heute verteilt dieses Drei-Säulen-System die Lasten und Risiken auf eine obligatorische staatliche (AHV), eine obligatorische berufliche (BVG) und eine freiwillige private Säule (Selbstvorsorge). Staatlich und privat, obligatorisch und freiwillig, solidarisch und selbstverantwortlich – so ist die Vorsorge zum Wohle des Ganzen im Gleichgewicht und erhöht damit die Resilienz unseres Landes. Vielfalt und Ausgewogenheit untereinander und die eigene Leistungsfähigkeit jeder der drei Säulen stärken nicht nur das System, sondern sind – analog zur Biodiversität in der Natur – Voraussetzung für dessen Nachhaltigkeit.

Digitalisierung setzt die Solidarität unter Druck

Trotz ihrer Erfolgsgeschichte ist die Solidarität kein Selbstläufer. Weder im Staat noch im Versicherungswesen. Gerade die Digitalisierung setzt ihr zu.

Digitalisierung bedeutet mehr Effizienz, mehr Möglichkeiten, mehr Wissen. Sie schafft ökonomischen und lebenspraktischen Mehrwert für das Individuum wie auch die Gemeinschaft und ist aus Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Anderseits vergrössern die zunehmende Vernetzung und die stetig wachsende Datenmenge die Abhängigkeiten, erweitern das Spektrum der Risiken und begünstigen die Kontrolle über sich und andere. Der Technologiewandel schränkt die Privatsphäre und die Entscheidungshoheit des einzelnen Menschen immer weiter ein, im selben Mass wie er dessen Wissen und Handlungsmöglichkeiten vervielfacht.

Die Digitalisierung durchdringt auch das Versicherungswesen und verändert es unablässig und in hoher Kadenz. Die Vermessung des eigenen Verhaltens hilft bei der Prävention und bei der Risikominimierung. Sicher fahren und gesund leben sind Schlagworte dazu. Damit nimmt aber auch der Druck auf die Versicherten zu, versicherungstechnisch korrekt, aber fremdbestimmt zu leben.

Solidarität misst sich nicht in Franken, Schritten und Kalorien. Sie ist ein ideelles Gut.

Mit der Datenflut lüftet sich auch der Schleier des Nichtwissens, der bisher über dem Versichertenkollektiv lag. Die Gewissheit über den Umfang des eigenen Risikos verleitet zum Vergleich mit dem Median des Kollektivs. Die Bereitschaft für andere zu zahlen nimmt ab. Das neue Wissen über die Versicherten kann auch die Versicherer dazu anleiten, das Versichertenkollektiv zu segmentieren und so für die guten Risiken beziehungsweise spezifische Personengruppen attraktiver zu machen. Damit wird zwar die Selbstverantwortung gestärkt, aber zulasten von Solidarität und Zusammenhalt. Wenn gute Risiken belohnt werden, müssen die schlechten bestraft werden, sonst geht die Rechnung über das Gesamte nicht auf.

Doch Solidarität misst sich nicht in Franken, Schritten und Kalorien. Sie ist ein ideelles Gut. Nur der Mensch, nicht die digitale Welt, kann ihr den Wert geben, den er ihr geben will. Nur er kann sich aus Verständnis und Überzeugung zu ihr bekennen. Wieweit die Menschen bereit sind, die Solidarität im Versicherungswesen der Digitalisierung zu opfern, muss die Zukunft weisen. Vieldeutig sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage der Forschungsstelle Sotomo. Gemäss dieser steht einer zunehmenden Akzeptanz für verhaltensabhängige Prämien ein unverändert starkes Bekenntnis zur Solidarität in der Schadensgemeinschaft gegenüber. «Sowohl als auch» scheint die Losung der Befragten zu lauten. Die grosse Herausforderung wird sein, diese Devise mit den Sachzwängen des Technologiewandels in Einklang zu bringen.

Institutionalisierung strapaziert die Maxime

Das Solidaritätsprinzip steht aber auch von anderer Seite unter Druck. Nähe, Verbundenheit und Freiwilligkeit sind wesentlich für die Solidarität und veredeln sie. Schon Paulus wusste: «Geben ist seliger denn Nehmen.» Die staatliche, institutionalisierte Solidarität ist weder freiwillig, noch ist dort die persönliche Nähe, ja die Betroffenheit die Triebfeder für das gemeinschaftliche Handeln. Dafür ist sie jedoch berechenbar, konstant und sicher. Und: Sie wird weitherum als zentrales Instrument für den sozialen Ausgleich und den Zusammenhalt von Land und Gesellschaft anerkannt und geschätzt. Dieser Logik folgt auch ihr stetiger Ausbau. Im realen Leben, zu dem auch die Politik gehört, machen Geben und Nehmen, anders als in der Bibel, oft beide gleich selig.

Es besteht bei diesem Ausbau die Gefahr, die Institutionalisierung der Solidarität, unter deren Mantel die Umverteilung mitläuft, immer weiter zu treiben, sie damit jedoch ihres inneren Gehalts zu berauben. Die Einführung immer neuer obligatorischer Solidaritäten, wie etwa jener zwischen Vätern und Nicht-Vätern oder der durch das Parlament aus sachfremdem Anlass durchgeboxten Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose, sind deshalb nicht nur in finanzieller Sicht kritisch zu beurteilen. Für die Politik stellt sich je länger, je mehr die schwierige Frage, wie die fortschreitende Institutionalisierung der Solidarität gestoppt werden kann, um deren Kerngehalt vor der behördlichen Aushöhlung zu schützen.