Neue Ideen für das Alter
Die Alterung der Gesellschaft stellt den Sozialstaat auf die Probe. Neue Geldquellen zu finden, reicht nicht. Vielmehr sind neue Ideen gefragt: Die Gemeinde Horgen am Zürichsee geht einen pionierhaften Weg. Mit einem umfassenden Alterskonzept stärkt sie den prästationären Bereich. Das spart nicht nur Pflegekosten, es entspricht auch den Bedürfnissen der Bevölkerung.
Beitrag aus dem Jahresmagazin View
Jeder soll nach seiner Fasson selig werden. Der bis heute berühmte Leitspruch Friedrichs II. von Preussen fasst den liberalen Gedanken in der knappsten aller Formen zusammen. Allein im Alters- und Pflegebereich schien dieses Motto allzu lange ungehört – zumindest, was die Aussenwirkung betrifft. Der Begriff «Heimeintritt» tönt noch heute für viele mehr nach Gerichtsurteil als nach freiwilligem Entscheid. Das Heim stand lange als Synonym für eine letzte freudlose Lebensphase in Fremdbestimmung mit schlechtem Essen, langweiligen Tagen vor dem Fernseher und Bettzeiten, die jegliche Abendvergnügung zunichte machen. Nach Party tönte es jedenfalls nicht, trotz der enormen Kosten.
Heute ist dieses Bild im Wandel. Das hat nicht nur mit der Alterung der Gesellschaft zu tun, die nach neuen Modellen verlangt, sondern auch mit einer neuen, selbstbewussten Seniorengeneration. Die öffentliche Hand, die Institutionen und die Industrie der Medizinaltechnik müssen sich den neuen Entwicklungen anpassen. Nicht zuletzt ist die gesamte Lebenswelt alter Menschen angesichts der demografischen Entwicklung ein interessanter Wachstumsmarkt.
Diese neue Situation stellt die Gemeinden vor neue Herausforderungen. Sie spüren die Alterung der Bevölkerung unmittelbar, ganz besonders dann, wenn sie – wie im Kanton Zürich – für die Pflegefinanzierung aufkommen müssen. Wohl dem, der sich dieser Herausforderung frühzeitig stellt!
Stärkung des prästationären Bereichs
Die Gemeinde Horgen am Zürichsee tut dies seit vielen Jahren beispielhaft. Der Alterung der Bevölkerung begegnet man in der wohlhabenden, bürgerlich-industriell geprägten Seegemeinde positiv und offenen Auges. Schon 1993 erarbeitete die Gemeinde ein Altersleitbild, auf dem seither aufgebaut wird. Der Grundgedanke dabei ist der möglichst lange Erhalt der Selbstbestimmung. Seniorinnen und Senioren sollen so lange sie wollen und können selbständig zuhause leben. Das spart nicht nur Pflegekosten, sondern entspricht in der Regel auch den Wünschen der «neuen Alten».
Das übergeordnete Ziel der Horgner Alterspolitik ist also eine Stärkung des prästationären Bereichs, erklärt Gemeinderat Hans-Peter Brunner, Vorsteher Gesellschaft in Horgen. «Immer noch zu viele Leute gehen ins Heim, obwohl sie noch gut zuhause leben könnten», sagt Brunner. Es ist wohl ein Automatismus aus der alten Zeit, der in der Gemeinde ohne Not beträchtliche Kosten verursacht. Das soll sich durch gezielte Angebote ändern.
Das jüngste Kind und quasi Sinnbild des Horgner Alterskonzepts ist die Siedlung Strickler. Hier oben an schöner Aussichtslage hoch über dem See ist seit zwei Jahren das altersdurchmischte Wohnen Programm. Zwei Drittel der 44 Wohnungen sind für Personen über 60 Jahre reserviert, der Rest ist für Familien vorgesehen. Wer hier wohnt, verpflichtet sich als Teil einer «sorgenden Gemeinschaft» auf eine gute Nachbarschaft.
Nachbarschaftlichen Hilfe
Das heisst: Hier leben Alt und Jung zusammen und stützen sich gegenseitig im Rahmen der nachbarschaftlichen Hilfe, die eine von der Gemeinde angestellte Wohnassistentin moderiert. Erst bei Bedarf kommen professionelle Stellen wie die Spitex zum Einsatz. «Der Staat soll sich aus dem Privatbereich natürlich möglichst heraushalten», sagt Brunner, der für die FDP im Kantonsrat sitzt. Aber er soll die nötigen Rahmenbedingungen für ein gutes Miteinander im Sinne eines selbstbestimmten Lebens bieten. Die Siedlung Strickler tut dies nach Möglichkeit bis zuletzt. Eine integrierte Pflegewohngruppe bietet Platz für elf Personen mit Pflegebedarf und Betreuung rund um die Uhr. Ein neues, ähnliches Projekt mit rund 180 Wohnungen steht kurz vor der Baueingabe.
Die altersdurchmischten Siedlungen sind allerdings nur ein Teil der Horgner Alterspolitik. Das ist auch gut so. Denn die erste Zwischenbilanz zur Siedlung Strickler zeigt, dass nicht alle Bewohnerinnen und Bewohner ein echtes Interesse am Gemeinschaftsleben haben, trotz langer Wartelisten und einem ausgeklügelten Selektionsverfahren bei der Vermietung. Überdies gibt es trotz der attraktiven Mietpreise vorab bei den Jüngeren eine unerwartet lebhafte Fluktuation. Die Gründe dafür werden nun untersucht.
Was auch immer die Erkenntnisse sein mögen – ein gutes Alterskonzept ruht immer auf mehreren Säulen. In Horgen ist die umfassende Wohnassistenz eine davon. Insgesamt kümmern sich drei Siedlungs- und Wohnassistentinnen um die Seniorinnen und Senioren, die noch zuhause leben. Sie unterstützen die ältere Bevölkerung in allen Fragen des Alltags, machen Hausbesuche, stellen Kontakte her, verweisen auf Angebote und organisieren, wenn nötig, professionelle Unterstützung.
Ergänzt wird dieses Angebot von der Anlaufstelle Alter und Gesundheit, welche die Bevölkerung in Altersfragen kostenlos berät und unterstützt. Sie ist im Baumgärtlihof domiziliert. Dort, mitten im Dorf, befindet sich auch das Begegnungszentrum für Senioren samt Café. Hier trifft man sich zum geselligen Zusammensein, zum Jassen, zum Schachspielen, man verabredet Ausflüge, füllt gemeinsam die Steuererklärung aus oder verfasst den Vorsorgeauftrag. Regelmässig gibt es Computer- und Sprachkurse, im Flick-Café wird gemeinsam repariert, es gibt Vernissagen und Cineastisches und auch die «Pixeljäger», eine Gruppe von Hobbyfotografen, haben hier ihre Basis, genauso wie die Teilnehmer des Programms «Zäme go laufe», ein Projekt der Universität Zürich, das den Senioren im sprichwörtlichen Sinn auf die Sprünge hilft.
Prinzipien der Horgner Alterspolitik
Niederschwellige Angebote, aktive Altersarbeit, Hilfe zur Selbsthilfe, Nachbarschaftshilfe und Freiwilligenarbeit – all das zählt zu den Prinzipien der Horgner Alterspolitik mit dem Ziel, sowohl den Bedürfnissen der älteren Bevölkerung, wie auch dem Problem steigender Pflegekosten zu begegnen. «Der Bedarf an Ergänzungsleistungen nimmt überproportional zu», sagt Hans-Peter Brunner. Und diese Situation wird sich nicht entschärfen. In Horgen wird der Anteil der über 85-Jährigen bis im Jahr 2030 um rund 80 Prozent zunehmen. Eine kluge Alterspolitik ist daher mit Blick auf eine sichere Finanzierung von existentieller Bedeutung. Natürlich hat auch das Heim seinen Platz. Fünf sind es an der Zahl in Horgen. «Sie machen einen guten Job und arbeiten effizient», sagt Brunner. Auch hier schaut man genau hin. Soeben ist die Gemeinde daran, sämtliche Leistungsaufträge mit den Heimen neu aufzusetzen.
Die Gemeinde sei für diese Aufgaben die richtige Instanz, sagt Hans-Peter Brunner. Hier spüre man die Entwicklungen und ihre finanziellen Auswirkungen unmittelbar, was eine disziplinierende Wirkung habe. Würde die Finanzierung von Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen auf eine höhere Stufe verlagert, würde die Selbstdisziplin wohl erlahmen, mit den bekannten Folgen. Bürgernähe ist deshalb ein Grundgedanke in der Horgner Alterspolitik. Kein Wunder, spricht der Gemeinderat ganz bewusst von einem «Dorf», wenn er Horgen meint. Trotz der über 22'000 Einwohner.