Die Co­ro­na­kri­se of­fen­bart mas­si­ve Schutz­lü­cken

Kontext

Wie hat die Versicherungsbranche die Coronakrise bisher gemeistert? Und welche Lehren sollten die Unternehmen, die Gesellschaft und die Politik aus der Krise ziehen? Ruedi Kubat (Allianz Suisse) und Ivo Menzinger (Swiss Re) ziehen eine Zwischenbilanz.

Der Start ins Jahr 2020 hat uns unverhofft gelehrt, wie radikal sich unser gewohnter Alltag verändern kann.» Mit diesen Zeilen begann der SVV-Jahresbericht des vergangenen Jahres. Mittlerweile gehört Covid-19 längst zu unserem Alltag. Und noch weiss niemand mit Sicherheit, wie sich die zweite Hälfte des Jahres 2021 entwickeln wird. Müssen wir uns daran gewöhnen, auch in Zukunft im Tram und in öffentlichen Räumen Masken zu tragen? Wie viele Betriebe werden als Folge der Krise noch schliessen müssen? Erreicht die Impfkampagne die gewünschte Wirkung? Es sind nicht zuletzt die vielen Fragezeichen, die den Umgang mit dieser Pandemie so herausfordernd machen. Und natürlich war und ist davon auch die Versicherungswirtschaft betroffen. «Eine Krise wie diese haben wir alle noch nicht erlebt», sagt Ruedi Kubat, Leiter Sachversicherungen bei der Allianz Suisse und Präsident des Steuerungsausschusses des Projekts «Pandemieversicherung» beim Schweizerischen Versicherungsverband SVV. «Die Coronapandemie gleicht einem Flächenbrand, der sich rasch über viele Länder ausgebreitet hat.»

Durch die Krise enger zusammengerückt

Für die Mitarbeitenden der Allianz Suisse sei der erste Lockdown im März 2020 ein grosser Schock gewesen. Ganz zu Beginn der Pandemie ging es laut Kubat primär darum, den Betrieb sicherzustellen und gleichzeitig die Mitarbeitenden zu schützen. Von einem Tag auf den anderen arbeiteten über 90 Prozent der Allianz-Mitarbeitenden von zuhause aus. Die schweizweit rund 130 Agenturen wurden fast zwei Monate für den Kundenverkehr geschlossen. Relativ schnell hätten sich die Mitarbeitenden jedoch mit der neuen Situation abgefunden, bilanziert Ruedi Kubat. Mehr als das: «Insgesamt sind wir als Unternehmen meiner Wahrnehmung nach in der Krise sogar enger zusammengerückt.» Das habe auch eine entsprechende Umfrage ergeben, die das Unternehmen während des ersten Lockdowns durchführte. Diese ergab darüber hinaus, dass die Coronakrise für Unternehmen durchaus auch Chancen bietet. So wünschten sich zwei Drittel der befragten Allianz-Mitarbeitenden, in Zukunft vermehrt im Homeoffice tätig sein zu können. «Der Wandel ist ohnehin unser ständiger Begleiter – jetzt wird er sich noch etwas beschleunigen», glaubt Ruedi Kubat. Die Krise habe diesbezüglich wertvolle Impulse geliefert, in welchen Bereichen das Unternehmen in Zukunft noch digitaler und effizienter werden könne. Konkret könnten zum Beispiel auch im Aussendienst digitale Tools – etwa die Möglichkeit zur Videobearbeitung – zunehmend an Bedeutung gewinnen. Insgesamt zieht Ruedi Kubat eine positive Bilanz: «Unter diesen extrem schwierigen Rahmenbedingungen sind wir mit dem Erreichten sehr zufrieden. Wir haben die Krise unter anderem dank unseres gut diversifizierten Geschäftsportfolios bislang gut gemeistert.»

Während die Allianz und die meisten anderen Versicherungsunternehmen verhältnismässig gut durch die bisherige Pandemie kamen, litten andere Branchen massiv unter deren Folgen. Darunter befinden sich auch viele Kundinnen und Kunden der Allianz. «Wir haben uns mit unseren Unternehmenskunden in dieser schwierigen Situation solidarisch gezeigt und weitreichende Zahlungserleichterungen gewährt, um ihnen finanziell Luft zu verschaffen», sagt Ruedi Kubat. Damit steht das Unternehmen nicht allein: Die Schweizer Versicherungsindustrie hat im Jahr 2020 im Zusammenhang mit Corona nicht nur rund eine Milliarde Franken an Schadenzahlungen geleistet, sie hat auch viele Betriebe mit Zahlungserleichterungen oder Mietzinsreduktionen unterstützt. «Wir haben unseren Kundinnen und Kunden beispielsweise kostenlose Zahlungsvereinbarungen angeboten, auf Mahnungen und Betreibungen und die damit verbundenen administrativen Gebühren verzichtet oder Verzugszinsen deutlich reduziert», führt Kubat stellvertretend für die Branche aus. Zudem sei die Allianz zahlreichen gewerblichen Mietern mit Mietzinsstundungen beziehungsweise -reduktionen entgegengekommen, was wiederum generell in der Branche der Fall war.

Prinzipien der Versicherbarkeit

Obwohl die Privatversicherer ihren Kundinnen und Kunden in vielen Bereichen Unterstützung boten, wurden vor allem zu Beginn der Pandemie immer wieder kritische Stimmen gegenüber der Branche laut. «Die Coronakrise hat massive Schutzlücken offenbart – vor allem im Bereich der Betriebsschliessungen und -unterbrechungen», sagt Kubat. Das sorgte für Frust. Gerade zu Beginn der Krise gerieten die Privatversicherer wiederholt ins Kreuzfeuer der Kritik, weil sie häufig Versicherungsleistungen aufgrund eines Epidemie- oder Pandemieausschlusses in ihren Deckungen ablehnten. Und dies, obwohl sich die wirtschaftlichen Folgen einer Pandemie wie Covid-19 per se nicht über eine Schadenversicherung versichern lassen. Ein Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass die Betriebsunterbrechung viele Branchen geografisch flächendeckend durch ein und dieselbe Ursache getroffen hat. Zusätzlich kommt es bei einer Pandemie noch zu Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Risiken – dazu gehören Betriebsunterbrechungen, Auswirkungen auf die globalen Kapitalmärkte sowie der Anstieg der medizinischen Kosten und der Sterblichkeit.

Für die Versicherer zählt eine Pandemie zu den sogenannten Kumulrisiken – also zu den Gefahren, die gleichzeitig überproportional viele Schäden anrichten. «Der mit diesem Kumulrisiko verbundene Kapitalbedarf wäre so hoch, dass eine effektive Abdeckung nur durch den privaten Versicherungsmarkt allein Versicherungsprämien notwendig machen würde, die für die Versicherungsnehmer völlig unattraktiv, wenn nicht sogar unbezahlbar wären», sagt Ruedi Kubat. Mit anderen Worten: Ein Ereignis wie die Coronapandemie verstösst gegen sämtliche Prinzipien der Versicherbarkeit.

Versicherbarkeit Grossrisiken

Im Normalfall zahlen viele risikogerechte Prämien, damit im Schadenfall einzelne entschädigt werden.

Versicherbarkeit Grossrisiken

Sind – wie beim Eintritt eines Toprisikos – alle gleichzeitig auf Unterstützung angewiesen, funktioniert das Versicherungsprinzip nicht mehr.

Es passiert tatsächlich

Dies betont auch Ivo Menzinger, Head of Europe/Middle East/Africa für den öffentlichen Sektor beim Rückversicherer Swiss Re. «Die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Pandemie sind rein privatwirtschaftlich grundsätzlich nicht versicherbar.» Die vergangenen Monate haben offenbart, was eine fehlende Absicherung bedeutet. Die Pandemie habe die Bedeutung der Resilienz der Gesellschaft aufgezeigt, betont Ivo Menzinger. «Obwohl wir in der Theorie wussten, welche Folgen ein solches Ereignis mit sich bringen kann, hat die Gesellschaft nur begrenzte Vorsichtsmassnahmen ergriffen. Diesbezüglich müssen wir in Zukunft über die Bücher.» Menzinger glaubt, dass die Coronakrise vielen Leuten die Augen geöffnet habe. «Solche seltenen Ereignisse gibt es nicht nur in der Theorie, sie passieren tatsächlich.» Es liege nun an der Gesellschaft, festzulegen, wie die Schweiz «beim nächsten Mal» auf eine Pandemie oder ein anderes Grossereignis reagieren wolle. «Wir haben die Wahl: Entweder wir ziehen die wertvollen Lehren aus den Erfahrungen der vergangenen Monate – oder wir entscheiden auch in Zukunft wieder alles ad hoc», sagt Menzinger. Die aktuelle Situation stellt eine grosse Chance dar. «Nach dem Motto ‹never waste a good crisis› sollten wir nun die Chance nutzen, um als Gesellschaft etwas zu verändern.» Noch zu Beginn der Pandemie schien es, als wolle das Eidgenössische Finanzdepartement EFD die Chance nutzen: Es initiierte das Bundesprojekt «Pandemieversicherung». Als Projektleiter des SVV vertrat Ivo Menzinger die Versicherungswirtschaft im Projekt. Im Herbst 2020 hatte die Arbeitsgruppe aus Verwaltung und Versicherungswirtschaft ihre Arbeiten zuhanden von Bundesrat Ueli Maurer abgeschlossen. Allerdings liess der Bundesrat am 31. März 2021 verlauten, dass er die angedachten Varianten nicht weiterzuverfolgen gedenke. Er begründete diesen Entscheid mit einer angeblich fehlenden Unterstützung in der Wirtschaft. Für die Privatversicherer ist dieser Entscheid nicht nachvollziehbar. «Er steht im Widerspruch zur aktuellen nationalen Risikoanalyse von Katastrophen und Notlagen», sagt der SVV-Direktor Thomas Helbling. Obschon sich in der aktuellen Situation die massiven Schutzlücken offenbarten, sei die Landesregierung offenbar nicht gewillt, die Lehren für eine nächste Pandemie zu ziehen. «Statt dem grössten gesellschaftlichen Risiko mit einer vorsorgenden Planung entgegenzutreten, signalisiert die Landesregierung mit ihrem Entscheid, dass sie auch bei einer nächsten Pandemie auf eine Instant-Lösung für die Geschädigten setzt», betont Helbling. Dass in der Versicherungsbranche dieser Weg auch aus ordnungspolitischen Überlegungen abgelehnt wird, versteht sich von selbst. Sie setzt stattdessen auf den Weg des Vorsorgens. Dazu braucht es aber alle Akteure. Für Ivo Menzinger bleibt klar: «Eine Pandemieversicherung muss zu einem hohen Grad ein Solidarwerk sein. Um eine umfassende Schutzwirkung zu erzielen, braucht es eine sehr hohe Versicherungsdurchdringung.» Die Politik ist also aus Sicht der Privatversicherer weiter gefordert. Sie müsste die nötigen Rahmenbedingungen schaffen.

Pandemieversicherung in der Schwebe

Um die Risiken einer nächsten Pandemie abzusichern, braucht es eine gemeinsame Lösung von Versicherten, Versicherern und dem Staat.

Der Bundesrat hat am 31. März 2021 entschieden, das Konzept einer Pandemieversicherung vorderhand nicht weiter voranzutreiben. Dies, obwohl machbare Vorschläge auf dem Tisch lagen, die von einer Arbeitsgruppe im Auftrag des Eidgenössischen Finanzdepartements EFD unter Hochdruck erarbeitet worden waren. Diese bestand aus Vertretern der Bundesverwaltung und der Versicherungswirtschaft. Der Kernansatz beruhte darauf, die Privatversicherer einen Teil der Schadenlast übernehmen zu lassen, derweil der Staat den grösseren Part zu tragen hätte. Der Beitrag der Versicherer hätte sich gemäss diesem Konzept vor allem auf die Expertise und die Schadenerledigung, die Infrastruktur und die Kundenbeziehungen fokussiert. Mit dem Entscheid, das Konzept einer Pandemieversicherung auf Basis einer Public Private Partnership nicht weiterzuverfolgen, signalisiert der Bundesrat, dass er dem grössten gesellschaftlichen Risiko nicht mit einer Vorsorgeplanung entgegentreten will. Der Schweizerische Versicherungsverband SVV bleibt überzeugt, dass alle – auch der Bundesrat – weiter in der Pflicht stehen, eine für die Gesellschaft tragbare Lösung für Pandemierisiken zu finden. Entsprechend setzen sich die Schweizer Privatversicherer auch in Zukunft für einen Ex-ante-Lösungsansatz ein, der die wirtschaftlichen Folgen einer nächsten Pandemie beziehungsweise eines staatlich verordneten Lockdowns besser aufzufangen vermag.

Wie weiter?

Trotz des Übungsabbruchs durch den Bundesrat: Die Privatversicherer sind weiterhin bereit, an einer Lösung mitzuarbeiten. «Die Versicherungsbranche ist interessiert und offen, bei unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten Unterstützung zu leisten. Wir haben Geschäftsbeziehungen zu fast allen Unternehmen der Schweiz und die Instrumente, um regelbasiert schnell Auszahlungen an Betroffene zu leisten», sagt Menzinger. Das sei auch deshalb von Bedeutung, weil die Zeit im Pandemiefall ein nicht zu unterschätzender Faktor für das Überleben von Betrieben sein könne, erläutert er. Bleibt die Frage, welche Lehren die Versicherungsbranche selbst aus der Coronakrise ziehen sollte. «Insgesamt denke ich, dass die Versicherungsindustrie in der Schweiz die Krise bislang gut bewältigt hat», meint dazu Ruedi Kubat, der auch Mitglied des SVV-Ausschusses «Nichtleben» ist. «Dank ihrem nachhaltigen Geschäftsmodell und ihrer soliden Kapitalausstattung trägt die Branche zur Stabilität von Wirtschaft und Gesellschaft in der Krise bei. Kubat sieht jedoch insbesondere im Bereich der Kommunikation Nachholbedarf. «Wir müssen unsere allgemeinen Versicherungsbedingungen noch klarer formulieren und auch transparent darlegen, dass die Kosten einer Pandemie nicht von der Privatassekuranz getragen werden können. Diese Klarheit war vielleicht nicht immer gegeben, was verständlicherweise auch zu Frust und Ärger bei manchen Kunden führte.» Auch Ivo Menzinger ist der Meinung, dass die Krise der Branche die Wichtigkeit von klaren Vertragstexten vor Augen geführt habe. «Wir wollen keine Deckungslücken – aber die Versicherungswirtschaft kann auch nicht für Schäden aufkommen, für die sie nie Prämien eingenommen hat.»

Dieser Artikel ist im SVV Jahresmagazins «View» erschienen.