«Open Insu­rance muss ei­nen Mehr­wert für Ver­si­cher­te brin­gen»

Interview

SVV-Direktor Urs Arbter diskutiert im Dialog mit David Roman, Leiter Beratung Krankenversicherungen bei PwC, wie Open Insurance Innovation und Wettbewerb im Krankenversicherungsmarkt fördern kann – und welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen. Das Interview ist Teil des neuen PwC-Trendpapiers zum Krankenversicherungsmarkt. 

David Roman: Das Geschäftsmodell der Krankenversicherer hat wenig Spielraum. Im OKP-Geschäft dürfen keine Margen erzielt werden und auch das Zusatzversicherungsgeschäft kommt zunehmend unter Druck. Echte Innovationen lassen sich im Markt kaum beobachten. Könnte Open Insurance ein Ausweg sein?

Urs Arbter: Ein Ausweg würde eine Sackgasse implizieren, darum möchte ich es eher als Perspektive bezeichnen. Aber Sie haben natürlich Recht: Open Finance im Allgemeinen ermöglicht durchaus Innovation und vielversprechende Geschäftsmodelle. Die Spannweite ist breit, von ergänzenden Angeboten zu komplett neuen Geschäftsmodellen sind viele Szenarien denkbar.
Ein Beispiel könnten «Service Initiating Companies» sein, die es Kundinnen und Kunden ermöglichen, einen Überblick über ihre persönlichen Daten zu bekommen und diese auch zentral zu verwalten. Denn in der digitalen und vernetzten Welt ist es schwierig, einen Überblick zu haben, welche persönlichen Daten auf welcher Plattform wie verwendet werden. Eine solche Aufgabe könnten auch Versicherer übernehmen.
Wichtig ist dabei, dass eine Reziprozität von Anbeginn mitgedacht wird. Jeder, der kundenrelevante Daten via API nutzen möchte, soll im Gegenzug auch seine Daten bereitstellen. Stellen zum Beispiel Krankenversicherer Daten für die Nutzung durch Technologiefirmen zur Verfügung, soll der Datenfluss auch in die andere Richtung möglich sein. Ohne solche Regeln wären die Spiesse nicht gleich lang, wodurch die Angebote einseitig wären und sich nicht durchsetzen könnten.
Am Ende des Tages ist stets entscheidend, dass durch ein neues Angebot oder Geschäftsmodell ein Mehrwert für die Versicherten entsteht. Denn dann birgt Open Insurance Chancen für den Versicherungssektor. Zielt der Austausch von Daten nur auf die Risikosegmentierung, ist das Konzept wenig innovativ und auch nicht erfolgversprechend. 

Was ist Open Insurance?

Open Insurance hat bisher keine eigene einheitliche Definition. Im weitesten Sinne beschreibt es den (automatisierten) Austausch von versicherungsbezogenen strukturierten Daten zwischen Marktteilnehmern, in der Regel über Programmierschnittstellen (sogenannten APIs). Die beteiligten Akteure können diese Daten aggregieren, verknüpfen und auswerten, um darauf aufbauend neue versicherungsbezogene Angebote und Lösungen für Versicherte zu entwickeln. 

Bisher setzt dieser Datenaustausch einen hohen Abstimmungsaufwand voraus. Marktteilnehmer müssen zunächst technisch und kommerziell zusammenfinden, was eine grosse Hürde für datenbasierte Innovation darstellt. Open Insurance hat daher zum Ziel, integrierte und standardisierte Programmierschnittstellen einzuführen, über die Daten einfacher und sicher ausgetauscht werden können. 

Wie würde Open Insurance in der Risikosegmentierung funktionieren?

Echte Open Insurance in der Risikosegmentierung bedingt den Austausch von anonymisierten Schadendaten zwischen Versicherern. Findet dieser Austausch bei einer freiwilligen Versicherung und personenbezogen statt, können individualisierte Produkte entstehen (zum Beispiel «Insurance on demand»). Diese Entwicklung hat jedoch Grenzen, wenn die Preissetzung ausschliesslich auf die persönlichen Schadendaten der versicherten Person abgestützt wird. Dies bricht mit dem Solidaritätsprinzip einer Versicherung und würde sich negativ auf den Versicherungsmarkt auswirken. Im Extremfall kann dies sogar zu einer Elimination eines Versicherungsteilmarktes führen.

Wo liegen weitere Herausforderungen von Open Insurance?

Eine zentrale Herausforderung ist die Definition von Open Insurance und das klare Abstecken des möglichen Spielfeldes. Bisherige Diskussionen zeigen, dass das Thema schwer fassbar ist. Im EU-Raum wird Open Insurance von Regulatoren schon länger diskutiert, die möglichen Umsetzungsresultate scheinen aber oft unklar.

Die europäischen Regulatoren lassen sich stark durch den Konsumentenschutz treiben und versprechen sich davon allgemein ein besseres Pricing oder bessere Produkte. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass eine technologiebasierte Regulierung das tatsächliche Kundenbedürfnis oftmals ausser Acht lässt und Innovation damit eher hemmt. So werden Regulierungsideen aus dem Open Banking für den Versicherungsbereich diskutiert, ohne zu definieren, was das Konzept genau umfasst und welche Daten zur Verfügung gestellt werden: Kundendaten? Vertragsdaten? Schadendaten? Ich bin froh, dass die Schweiz in diesem Zusammenhang einen marktbasierten Ansatz verfolgt und damit Innovationen fördert.

Eine weitere Herausforderung ist der Datenschutz. Gesundheitsdaten sind zwar äusserst spannend, aber auch speziell geschützt. Im Krankenversicherungsbereich sind Gesundheitsdaten über das Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) und das Schweizer Datenschutzgesetz doppelt geschützt. Um Open Insurance breit umzusetzen, müssten also mehrere Gesetze angepasst werden, was in naher Zukunft eher unwahrscheinlich und auch nachvollziehbar ist.

Wie wäre es entweder mit anonymisierten, personenbezogenen oder dann mit aggregierten Daten? Könnte man mit solchen nicht gewisse Muster erkennen und dennoch der Datenschutzproblematik entgegenwirken?

Für anonymisierte Daten sind grundsätzlich weniger Gesetzesanpassungen notwendig. Das bietet sicherlich spannende Möglichkeiten und würde Innovation weiter fördern. Im politischen Kontext werden solche Alternativen aber kaum diskutiert.
Es stellt sich hier auch die Frage, wie offen «Open Insurance» denn sein soll oder tatsächlich sein muss. Denn eine Alternative zur Lösung der Datenschutzproblematik wäre der Datenaustausch in einem geschlossenen Ökosystem. Das heisst, Open Insurance würde zunächst in einer Community mit fünf bis sechs Partnern im Sinne eines Ökosystems umgesetzt. Durch die Aggregierung von Daten und den anonymisierten Austausch innerhalb dieses Ökosystems könnten ebenfalls neue Produkte und Leistungen entwickelt werden.

Damit sich Open Insurance durchsetzen kann, braucht es zuerst Klarheit darüber, was erreicht werden soll.

Wie gross ist die Gefahr und der Konkurrenzdruck, welcher aus dem Markteintritt von Technologiefirmen und Startups resultiert und können Krankenversicherer sich leisten, nichts zu tun?

Im Moment schätze ich die Gefahr eines raschen Markteintritts von Technologiefirmen als gering ein. Denn Technologiefirmen und Startups werden vor den gleichen regulatorischen Hürden wie Krankenversicherer stehen. Zudem ist der Schweizer Markt aus Perspektive eines weltweiten Anbieters vergleichsweise klein. Das macht den Markt weniger attraktiv. Zudem haben die bisherigen Anbieter einen gewissen «Heimvorteil», da sie sich im Umgang mit diesen Regularien bereits auskennen. Alle Angebote, die nicht reguliert sind, könnten dagegen schnell neue Konkurrenz erhalten.
Damit sich Open Insurance durchsetzen kann, braucht es zuerst Klarheit darüber, was erreicht werden soll. Dazu gehört ein Verständnis, von welchen Daten konkret gesprochen wird. Das ist heute oftmals noch nicht gegeben. Folglich wird es noch einige Zeit dauern, bis Open Insurance in der Breite zu Innovationen im Schweizer Markt führt, die die Kundinnen und Kunden direkt spüren.
 

Titelseite PwC-Trendpapier "Das bewegt die Schweizer Krankenversicherer"

PwC Trendpapier

Dieses Interview ist erstmals im PwC-Trendpapier «Das bewegt die Schweizer Krankenversicherer» erschienen. Trends wie Nachhaltigkeit, Digitalisierung oder Margendruck halten das Schweizer Gesundheitswesen in Bewegung. Um sich zu behaupten und wettbewerbsfähig zu bleiben, sollten Krankenversicherer diesen Wandel aktiv mitgestalten. 

In diesem Kontext geht das Trendpapier auf sechs zentrale Markttrends mit spannenden Denkanstössen und wertvollen Tipps für die Praxis für Krankenversicherer ein. Sie können das Trendpapier bei PricewaterhouseCoopers beziehen.